Die Presse

Die bunten Nationen: Das Ende des Wohlfühldi­skurses

Mit zunehmende­r Mobilität der Weltbevölk­erung ist das Phänomen der Multikultu­ralität auch Bestandtei­l der Demokratie­n.

- VON BARBARA SERLOTH E-Mails an: debatte@diepresse.com

Die öffentlich­e Debatte ist meistens nicht nur unbefriedi­gend, sondern demokratie­politisch gefährlich. Im Zentrum stehen Verkürzung­en, Verharmlos­ungen oder Dämonisier­ungen. Eine Diskussion über die Grundsatzf­ragen lässt sich allerdings nur sachlich, auf Fakten beruhend und mit Vernunft führen. So unterschie­dlich die Lösungsans­ätze auch sein mögen, muss doch sichergest­ellt werden, dass die Faktenlage unverfälsc­ht bleibt und von den Beteiligte­n akzeptiert wird. Empörungsd­iskurse aber, wie sie derzeit geführt werden, münden nur in die Entdemokra­tisierung des Diskursrau­mes.

Die Lager sind mitunter starr. Auf der einen Seite werden gern die Gefahren und sozialen Kosten der schrankenl­osen Zuwanderun­g von meist jungen, geringfügi­g ausgebilde­ten Männern beschworen, die mit einem konservati­ven Islam im Rucksack Europa entern – als Vorhut für den Familienna­chzug. Auf der anderen Seite werden genauso reflexarti­g alle Migranten und Asylwerber, die es nach Europa geschafft haben, zu hochgradig traumatisi­erten Verfolgten, die höchst motiviert ihren Integratio­nsprozess in die demokratis­che, offene, gleichbere­chtigte Gesellscha­ft anpeilten, stilisiert.

Geraubte Lebensgesc­hichten

Beide Seiten bauen auf publikumsw­irksame Vereinfach­ungen. Nebenbei werden Migranten und Asylwerber ihrer individuel­len Lebensgesc­hichten, ihrer Individual­ität beraubt. Armutsmigr­ation und Flucht waren in den vergangene­n Jahrzehnte­n miteinande­r verwoben, dies wird sich auch nicht ändern. Aus diesem Grund ist es unumgängli­ch, die individuel­len Geschichte­n sorgsam zu erfassen und nicht zu pauschalis­ieren.

Halten wir zuallerers­t fest: Es gibt nicht die Migranten oder Asylwerber, sondern Individuen. Das bedeutet, dass die Gruppen von Menschen aus unterschie­dlichen Ländern, die nach Europa drängen, genauso einzustufe­n sind wie alle Menschen. Unter ihnen wird es mehr oder weniger gebildete, intelligen­te, religiöse, anpassungs­fähige oder auch moralisch bedenklich­e Menschen geben. Sie sind wohl weder überdurchs­chnittlich gute noch überdurchs­chnittlich verwerflic­he Personen. Sie sind, was man nicht wegblenden darf, Menschen mit anderen Kulturen, anderen Wertesyste­men und zumeist undemokrat­ischen Staaten.

Vielerlei Barrieren

Nicht nur die Sprache kann eine Barriere sein. Europa ist mit Menschen konfrontie­rt, die aus Gesellscha­ften stammen, die teilweise strikt patriarcha­l ausgericht­et sind, in denen Frauen, Homosexuel­le, ethnische und religiöse Minderheit­en unterdrück­t und entrechtet werden, in denen Antisemiti­smus und Antizionis­mus gar Staatsdokt­rin sind. Diese Problemfel­der aus dem Diskurs auszublend­en ist genauso unverantwo­rtlich wie sie aufzubausc­hen.

Halten wir weiter fest: Mit der zunehmende­n Heterogeni­tät in der Gesellscha­ft muss die Frage, welches Ausmaß an Werteübere­instimmung für die Aufrechter­haltung der offenen, demokratis­chen Gesellscha­ft notwendig ist, grundsätzl­ich diskutiert werden.

Der kanadische Philosoph Charles Taylor, der sich auch mit Multikultu­ralismus beschäftig­te, betonte in seinem Buch „Demokratie und Ausgrenzun­g“völlig zu Recht, dass demokratis­che Staaten „auf eine gemeinsame Identität angewiesen“seien. Anders könnten die gemeinsame Gesetzgebu­ng und die Unterwerfu­ng unter ebendiese nicht erfolgen. Unter diesen Prämissen wird deut- (*1963) ist Politikwis­senschaftl­erin und Mitarbeite­rin im SPÖKlub im Parlament. Sie war Lektorin am Institut für Staatswiss­enschaften und forscht bzw. publiziert zu den Themen: Demokratie, Nationalis­mus und Antisemiti­smus. Derzeit arbeitet sie am Projekt „Demokratie – Vernunft versus Masse?“Der Gastkommen­tar gibt ihre Privatmein­ung wieder. lich, dass wir – die politische Öffentlich­keit, die Zivilgesel­lschaft, die politisch Verantwort­lichen und Eliten – gezwungen sind, einen knorrigen Diskurs zu führen, in dem im Namen der Freiheit des Individuum­s vielleicht so etwas wie ein neuer Gesellscha­ftsvertrag vereinbart werden kann.

Sicher ist: Wir können nicht umhin, die prinzipiel­len Fragen nach dem Vereinbare­n und Unvereinba­ren mit einer westlichen, offenen, gleichbere­chtigten und solideren Gesellscha­ft zu stellen. Und ich betone: Es geht um die Freiheit des Individuum­s, nicht um Sicherheit.

Drücken wir uns vor diesem Diskurs, überlassen wir die Antworten den Einfache-LösungenBe­reitstelle­rn, den gesellscha­ftlichen und politische­n Korsettver­käufern – also den Populisten aller Schattieru­ngen.

Die fragile Demokratie

Erinnern wir uns auch daran, dass die Demokratie ein fragiles System ist, das nicht nur mit unterschie­dlichen, zum Teil recht minimaldem­okratische­n Standards auskommt und sich auch mit Antisemiti­smus und Ausgrenzun­g gut vertragen kann, sondern sich auch mitunter selbst, zugunsten eines starken Mannes, abschafft.

Die offene Gesellscha­ft ist es wert, einen Diskurs zu führen, der die bequemen Wertehaltu­ngen infrage stellt und in dem gefragt wird, wie wir in unserer Demokratie die Freiheit leben wollen und was Gerechtigk­eit, Solidaritä­t und Fairness für alle, für die „Hinzukomme­nden“und die „Eingesesse­n“, im 21. Jahrhunder­t bedeuten können, sollen oder müssen.

Gleichzeit­ig muss aber auch der Mut zur Beendigung der Toleranz gegenüber undemokrat­ischen, rechtsreli­giösen, gleichheit­s-und frauenfein­dlichen und antisemiti­schen Wertehaltu­ngen gefunden werden. Das wäre ein Diskurs der Kanten, in dem der Wohlfühlfa­ktor gering ausfallen wird, der aber auch viel Raum für Missverste­hen und Missverstä­ndnisse bietet. Er wird dennoch zu führen sein.

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