„Ein Exit vom Brexit ist noch immer möglich“
Interview. Wirtschaftskammerpräsident Christoph Leitl findet an der Regierung nicht alles schlecht, kündigt eine Einigung bei Arbeitszeitflexibilisierung und Gewerbeordnung an und hofft auf einen Exit vom Brexit.
Die Presse: Vor ziemlich genau vier Jahren kam Ihnen das berühmte Wort „abgesandelt“über die Lippen. Nun spricht die Nationalbank von einem „Bilderbuch-Aufschwung“. Liegt die Zeit der Pessimisten hinter uns? Christoph Leitl: Die sieben mageren Jahre liegen hinter uns. Wollen wir hoffen, dass auch d,ank der Tüchtigkeit der österreichischen Betriebe zwar keine fetten Jahre kommen werden, aber wir dürfen Stabilität erwarten. Damals, als ich dieses Worte wählte, war Österreich im internationalen Vergleich zurückgefallen. Jetzt haben wir wieder die Chance, aufzuholen.
Warum müssen die Wirtschaftsforscher ihre Prognosen nicht mehr nach unten, sondern nach oben revidieren? Die Exportwirtschaft hat im ersten Quartal einen zweistelligen Zuwachs hingelegt. Es ist aber dennoch die berühmte Schwalbe, die noch keinen Sommer macht. Ich bleibe deshalb zurückhaltend. Wir haben gute Chancen, aber noch ist die Ernte nicht in der Scheune.
Wann ist die Ernte eingebracht? Wenn wir Ende des Jahres ein gutes Wachstum von zwei Prozent haben, wenn wir einen weiteren Beschäftigungsrekord und einen Exportrekord haben werden.
Wenn man sich die Daten ansieht, könnte man sagen: Es kann nicht alles falsch gewesen sein, was die Regierung gemacht hat. Und wir haben die Regierung auch immer wieder gelobt. Lohnnebenkostensenkung, bürokratische Vereinfachungen, das waren schöne Schritte. Kritik gab es natürlich auch, etwa in der Bildungsfrage.
Wir sind zwar nicht mehr abgesandelt, aber auch nicht im Spitzenfeld. Österreich liegt im europäischen Mittelfeld. Ist guter Durchschnitt schon gut genug? Um mit dem Genetiker Markus Hengstschläger zu sprechen: Hüten wir uns vor der Durchschnittsfalle. Die größte Gefahr besteht darin, dass wir mit dem Durchschnitt zufrieden sind. Wir müssen uns genau anschauen, wo wir gut und wo wir weit hinten liegen. Bei den Unternehmen sind wir vorne dabei, auch bei der Innovationskraft. Und wo sind wir abgeschlagen? Bei der hohen Besteuerung, bei der Bürokratie, bei der Regulierung des Arbeitsmarktes. Ja, es hat sich einiges verbessert. Aber wir haben aus den Chancen nicht das Optimum herausgeholt.
Stecken nicht auch viele Unternehmen – Stichwort Digitalisierung – in der Durchschnittsfalle? Bei den Hidden Champions liegt Österreich im Spitzenfeld. Wir haben etwa 300, Deutschland 1400. Bei den Nischenplayern liegen wir sensationell gut. Im Internationalisierungsindex der ETH Zürich liegt Österreich an vierter Stelle. Wir glauben immer, wir sind ein bornierter Kleinstaat.
Aber sind mit internationaler Vernetzung nicht vor allem Bayern und Osteuropa gemeint? Ja, wir haben in Asien und in den USA Aufholbedarf. Dort spielen sich zwei Drittel des Welthandels ab, aber wir sind noch nicht mit zwei Drittel unserer Exporte dabei.
Die Regierung bemüht sich um Reformen. Wird am Abend der Faule fleißig? Ich schließe mich der Kritik „Am Abend wird der Faule fleißig“nicht an. Denn das hieße: Wenn die Regierung nichts zusammenbringt, dann haut man sie. Und wenn sie dann wirklich etwas zusammenbringt, haut man sie auch.
Wir ziehen die Formulierung zurück, sagen: Besser spät als nie. Ja.
Was ist mit Arbeitszeitflexibilisierung oder Gewerbeordnung? Das kommt alles noch. Die Sozialpartner sind in konstruktiven Gesprächen. Aber wir hängen diese nicht an die große Glocke. Wir haben ja gesehen, wohin es führt, wenn man zu früh läutet. Die eine oder andere Reform braucht auch eine Zwei-DrittelMehrheit im Nationalrat. Bei der Gewerbeordnung ist etwa im Anlageverfahren eine Zweidrittelmehrheit erforderlich.
Das ist aber einer der Kernpunkte dieser Reform. Das ist richtig. Und ich hoffe, dass sich Parteien anschließen, die immer erklären, dass in der Entbürokratisierung nichts weitergeht.
Welche Partei meinen Sie? Na, die Freiheitlichen. Da wäre es schon angebracht, dass sie auch einmal über ihren eigenen Schatten springen. Übrigens: Für die Arbeitszeitflexibilisierung benötigen wir keine Zweidrittelmehrheit, für den Mindestlohn brauchen wir nicht einmal das Parlament.
Der Beschäftigungsbonus wurde bereits fixiert. Der wäre wohl damals, als Sie von „abgesandelt“sprachen, notwendiger gewesen. Besser jetzt als gar nicht. Zudem haben wir bei den ausländischen Investitionen noch ein Defizit. Da könnte der Beschäftigungsbonus sehr wichtig sein. Er sichert also nicht den Aufschwung, aber eine längerfristige Investitionstätigkeit. Sie werden bald Präsident der Europäischen Wirtschaftskammer. Wie sehr würde ein harter Brexit der Wirtschaft schaden? Es gibt nichts Schlechtes, das nicht auch sein Gutes hat. Das Schlechte ist, dass Großbritannien die europäische Familie verlassen möchte. Das macht mich auch persönlich betroffen. Nur noch sieben Prozent der Weltbevölkerung sind Europäer, wenn die sich zerkrachen, werden sie irgendwann von der Bühne abtreten.
Wo bleibt das Gute? Die Dinge kommen zumindest in Bewegung.
England ist für viele EU-Länder ein wichtiger Markt. Wie verhindern sie hier Exporthemmnisse? Am Schönsten wäre eine Art EWRLösung wie mit Norwegen. Da müssten die Briten aber die vier Grundfreiheiten und den Europäischen Gerichtshof akzeptieren.
Dann könnten sie gleich in der EU bleiben. Vielleicht werden sie – und das will ich gar nicht ausschließen – das Ergebnis der Brexit-Verhandlungen noch einmal einer Volksabstimmung unterziehen?
Und die Frage stellen: Wollen wir lieber Wikinger sein? Eher: Wollen wir nicht doch lieber einen Exit vom Brexit. Aber wie gesagt: Ein Modell wie mit Norwegen wäre auch möglich. Und wenn die Briten weiter gegen den Binnenmarkt sind, muss man sich eine andere wirtschaftliche Kooperationsebene überlegen.
Wie könnte die aussehen? Auf dieser Ebene können etwa Länder, die politisch nicht mittun wollen, dennoch wirtschaftliche Partner sein. Ich denke an Großbritannien, an die Türkei, an die Ukraine und an Russland.
Großbritannien in einer Reihe mit der Ukraine und der Türkei. Das mag ungewöhnlich klingen, aber so ist es, wenn ein Bundesligaklub freiwillig in die Regionalliga absteigt. Aber es liegt bei den Briten: Ein Exit vom Brexit ist noch immer möglich. Oder eben das norwegische Modell.