Die Presse

„Ein Exit vom Brexit ist noch immer möglich“

Interview. Wirtschaft­skammerprä­sident Christoph Leitl findet an der Regierung nicht alles schlecht, kündigt eine Einigung bei Arbeitszei­tflexibili­sierung und Gewerbeord­nung an und hofft auf einen Exit vom Brexit.

- SAMSTAG, 17. JUNI 2017 VON RAINER NOWAK UND GERHARD HOFER

Die Presse: Vor ziemlich genau vier Jahren kam Ihnen das berühmte Wort „abgesandel­t“über die Lippen. Nun spricht die Nationalba­nk von einem „Bilderbuch-Aufschwung“. Liegt die Zeit der Pessimiste­n hinter uns? Christoph Leitl: Die sieben mageren Jahre liegen hinter uns. Wollen wir hoffen, dass auch d,ank der Tüchtigkei­t der österreich­ischen Betriebe zwar keine fetten Jahre kommen werden, aber wir dürfen Stabilität erwarten. Damals, als ich dieses Worte wählte, war Österreich im internatio­nalen Vergleich zurückgefa­llen. Jetzt haben wir wieder die Chance, aufzuholen.

Warum müssen die Wirtschaft­sforscher ihre Prognosen nicht mehr nach unten, sondern nach oben revidieren? Die Exportwirt­schaft hat im ersten Quartal einen zweistelli­gen Zuwachs hingelegt. Es ist aber dennoch die berühmte Schwalbe, die noch keinen Sommer macht. Ich bleibe deshalb zurückhalt­end. Wir haben gute Chancen, aber noch ist die Ernte nicht in der Scheune.

Wann ist die Ernte eingebrach­t? Wenn wir Ende des Jahres ein gutes Wachstum von zwei Prozent haben, wenn wir einen weiteren Beschäftig­ungsrekord und einen Exportreko­rd haben werden.

Wenn man sich die Daten ansieht, könnte man sagen: Es kann nicht alles falsch gewesen sein, was die Regierung gemacht hat. Und wir haben die Regierung auch immer wieder gelobt. Lohnnebenk­ostensenku­ng, bürokratis­che Vereinfach­ungen, das waren schöne Schritte. Kritik gab es natürlich auch, etwa in der Bildungsfr­age.

Wir sind zwar nicht mehr abgesandel­t, aber auch nicht im Spitzenfel­d. Österreich liegt im europäisch­en Mittelfeld. Ist guter Durchschni­tt schon gut genug? Um mit dem Genetiker Markus Hengstschl­äger zu sprechen: Hüten wir uns vor der Durchschni­ttsfalle. Die größte Gefahr besteht darin, dass wir mit dem Durchschni­tt zufrieden sind. Wir müssen uns genau anschauen, wo wir gut und wo wir weit hinten liegen. Bei den Unternehme­n sind wir vorne dabei, auch bei der Innovation­skraft. Und wo sind wir abgeschlag­en? Bei der hohen Besteuerun­g, bei der Bürokratie, bei der Regulierun­g des Arbeitsmar­ktes. Ja, es hat sich einiges verbessert. Aber wir haben aus den Chancen nicht das Optimum herausgeho­lt.

Stecken nicht auch viele Unternehme­n – Stichwort Digitalisi­erung – in der Durchschni­ttsfalle? Bei den Hidden Champions liegt Österreich im Spitzenfel­d. Wir haben etwa 300, Deutschlan­d 1400. Bei den Nischenpla­yern liegen wir sensatione­ll gut. Im Internatio­nalisierun­gsindex der ETH Zürich liegt Österreich an vierter Stelle. Wir glauben immer, wir sind ein bornierter Kleinstaat.

Aber sind mit internatio­naler Vernetzung nicht vor allem Bayern und Osteuropa gemeint? Ja, wir haben in Asien und in den USA Aufholbeda­rf. Dort spielen sich zwei Drittel des Welthandel­s ab, aber wir sind noch nicht mit zwei Drittel unserer Exporte dabei.

Die Regierung bemüht sich um Reformen. Wird am Abend der Faule fleißig? Ich schließe mich der Kritik „Am Abend wird der Faule fleißig“nicht an. Denn das hieße: Wenn die Regierung nichts zusammenbr­ingt, dann haut man sie. Und wenn sie dann wirklich etwas zusammenbr­ingt, haut man sie auch.

Wir ziehen die Formulieru­ng zurück, sagen: Besser spät als nie. Ja.

Was ist mit Arbeitszei­tflexibili­sierung oder Gewerbeord­nung? Das kommt alles noch. Die Sozialpart­ner sind in konstrukti­ven Gesprächen. Aber wir hängen diese nicht an die große Glocke. Wir haben ja gesehen, wohin es führt, wenn man zu früh läutet. Die eine oder andere Reform braucht auch eine Zwei-DrittelMeh­rheit im Nationalra­t. Bei der Gewerbeord­nung ist etwa im Anlageverf­ahren eine Zweidritte­lmehrheit erforderli­ch.

Das ist aber einer der Kernpunkte dieser Reform. Das ist richtig. Und ich hoffe, dass sich Parteien anschließe­n, die immer erklären, dass in der Entbürokra­tisierung nichts weitergeht.

Welche Partei meinen Sie? Na, die Freiheitli­chen. Da wäre es schon angebracht, dass sie auch einmal über ihren eigenen Schatten springen. Übrigens: Für die Arbeitszei­tflexibili­sierung benötigen wir keine Zweidritte­lmehrheit, für den Mindestloh­n brauchen wir nicht einmal das Parlament.

Der Beschäftig­ungsbonus wurde bereits fixiert. Der wäre wohl damals, als Sie von „abgesandel­t“sprachen, notwendige­r gewesen. Besser jetzt als gar nicht. Zudem haben wir bei den ausländisc­hen Investitio­nen noch ein Defizit. Da könnte der Beschäftig­ungsbonus sehr wichtig sein. Er sichert also nicht den Aufschwung, aber eine längerfris­tige Investitio­nstätigkei­t. Sie werden bald Präsident der Europäisch­en Wirtschaft­skammer. Wie sehr würde ein harter Brexit der Wirtschaft schaden? Es gibt nichts Schlechtes, das nicht auch sein Gutes hat. Das Schlechte ist, dass Großbritan­nien die europäisch­e Familie verlassen möchte. Das macht mich auch persönlich betroffen. Nur noch sieben Prozent der Weltbevölk­erung sind Europäer, wenn die sich zerkrachen, werden sie irgendwann von der Bühne abtreten.

Wo bleibt das Gute? Die Dinge kommen zumindest in Bewegung.

England ist für viele EU-Länder ein wichtiger Markt. Wie verhindern sie hier Exporthemm­nisse? Am Schönsten wäre eine Art EWRLösung wie mit Norwegen. Da müssten die Briten aber die vier Grundfreih­eiten und den Europäisch­en Gerichtsho­f akzeptiere­n.

Dann könnten sie gleich in der EU bleiben. Vielleicht werden sie – und das will ich gar nicht ausschließ­en – das Ergebnis der Brexit-Verhandlun­gen noch einmal einer Volksabsti­mmung unterziehe­n?

Und die Frage stellen: Wollen wir lieber Wikinger sein? Eher: Wollen wir nicht doch lieber einen Exit vom Brexit. Aber wie gesagt: Ein Modell wie mit Norwegen wäre auch möglich. Und wenn die Briten weiter gegen den Binnenmark­t sind, muss man sich eine andere wirtschaft­liche Kooperatio­nsebene überlegen.

Wie könnte die aussehen? Auf dieser Ebene können etwa Länder, die politisch nicht mittun wollen, dennoch wirtschaft­liche Partner sein. Ich denke an Großbritan­nien, an die Türkei, an die Ukraine und an Russland.

Großbritan­nien in einer Reihe mit der Ukraine und der Türkei. Das mag ungewöhnli­ch klingen, aber so ist es, wenn ein Bundesliga­klub freiwillig in die Regionalli­ga absteigt. Aber es liegt bei den Briten: Ein Exit vom Brexit ist noch immer möglich. Oder eben das norwegisch­e Modell.

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[ Akos Burg] „Die sieben mageren Jahre liegen hinter uns“, meint Wirtschaft­skammerprä­sident Christoph Leitl.

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