Warum Anleger die Politik ignorieren können
Politik. Immer seltener treten vorhergesagte Kursfeuerwerke oder -einbrüche nach Volksentscheiden tatsächlich ein. Langfristig denkende Investoren können daraus eine wichtige Lehre ziehen: Durchatmen und Wahlen nicht zu wichtig nehmen.
New York. Dass Ökonomen und Journalisten auch irren können, ist wohl kein Geheimnis. Wer aber die Börsenprognosen vor wichtigen politischen Ereignissen der vergangenen zwölf Monate mit den tatsächlichen Marktbewegungen vergleicht, mag ob der Fehlerquote durchaus überrascht sein. Gelinde ausgedrückt.
So lautete der Tenor vor den Parlamentswahlen in Großbritannien diesen Monat, dass es für die Märkte wünschenswert wäre, würden Theresa Mays Konservative einen überzeugenden Sieg mit absoluter Mehrheit einfahren. Die Rückendeckung daheim würde es der Premierministerin ermöglichen, einen ordentlichen Ausstieg ihrer Nation aus der EU zu verhandeln, der dem Finanzstandort London nicht allzu viele Nachteile bringen würde. Klingt logisch. Die Investoren würden sich freuen.
Es kam anders, May steht jetzt wohl geschwächt da, nur die Investoren, Überraschung, haben trotzdem keine Trübsal geblasen. Der wichtigste Aktienindex FTSE 100 bewegte sich in der Woche nach der Wahl nicht bedeutend, und im Jahresvergleich liegt er immer noch knapp 25 Prozent im Plus. Schnell hatten die Experten eine Erklärung. Die Stärkung der Pro-Europäer sei schon auch gut für die Märkte, weil der Brexit nun weniger dramatisch beziehungsweise nicht ganz so konsequent durchgezogen werden wird.
Der überbewertete Faktor
So könnte Großbritannien auch nach dem Austritt den im Land lebenden EU-Bürgern gestatten, Ehepartner aus Nicht-EU-Staaten ins Land zu bringen. Das wäre für viele Banken wichtig, deren Banker zwar in London arbeiten, aber oftmals keine Briten sind. Und vielleicht, ja vielleicht könnte es sein, dass das Wahlergebnis dazu führt, dass die Briten ihren EU-Austritt nochmals überdenken.
Stimmt schon, alles kann sein. Es hätte auch sein können, dass die Märkte nach dem Referendum im Vorjahr wie vorhergesagt völlig einbrechen, und es hätte auch sein können, dass nach der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten alle Aktien und die Weltwirtschaft wie vielfach prophezeit den Bach runtergehen. War aber nicht so, und auch dafür gab es im Nachhinein vernünftige Erklärungen.
Nun muss man mit den Ökonomen nicht gleich so hart ins Gericht gehen wie Borealis-Chef Mark Garrett kürzlich im „Presse“-Interview. „Die sind wie die Wetterfeen, die liegen auch meist falsch“, sagte der gebürtige Australier. Man kann sich aber schon fragen, ob politische Ereignisse zu häufig als Erklärung für Marktbewegungen herangezogen werden. Ob die Rolle der Politik eines Nationalstaates – und sei er noch so mächtig – in unserer globalen Welt deutlich überbewertet wird.
Beispiel USA: Die im Aktienindex S&P 500 vertretenen Firmen machen im Durchschnitt knapp die Hälfte ihres Umsatzes außerhalb der USA, bei den größten Fischen ist dieser Prozentsatz noch höher. Firmen wie Apple, Google oder Exxon sind auf dem Papier amerikanische Konzerne. In Wahrheit handelt es sich um Weltkon- zerne, die zwar in einem gewissen Maß von der Politik eines US-Präsidenten abhängen, aber letztendlich nur deshalb so erfolgreich sind, weil sie sich den politischen Gegebenheiten anpassen.
Faustregel für Langfristige
Vernünftige, langfristig denkende Anleger wissen das, sie kaufen oder verkaufen keine Aktien eines Großunternehmens aufgrund eines Wahlergebnisses. Warren Buffett hatte im Wahlkampf kein Geheimnis daraus gemacht, dass er Hillary Clinton unterstützt und ihm eine Präsidentschaft Trumps Sorge be-
reitet. Und was hat der Starinvestor nach der Wahl getan? Binnen zweier Monate Aktien für zwölf Mrd. Dollar (10,7 Mrd. Euro) gekauft. Warum? Weil er Bilanzen lesen kann und weiß, dass Geschäftszahlen wichtiger sind als politische Rahmenbedingungen.
Nicht minder gilt das für Großbritannien. Die im FTSE 100 gelisteten Firmen erzielen knapp drei Viertel ihres Umsatzes jenseits der Insel. Wer etwa darauf wettete, dass die Aktie einer Weltbank wie HSBC dramatisch unter einem Brexit leiden würde, hat sich geschnitten. Wobei natürlich erwähnt werden muss, dass die Faustregel der politischen Bedeutungslosigkeit vor allem für langfristige Investments gilt. Kurzfristig sorgen überraschende, richtungsweisende politische Entscheidungen durchaus für dramatische Kursbewegungen. So stürzte das HSBC-Papier nach dem Brexit-Referendum innerhalb weniger Tage um mehr als zehn Prozent ab. Jedoch: Seitdem hat es um mehr als 40 Prozent zugelegt.
Somit sollte die Grundregel für private Kleinanleger klar sein: stets langfristig investieren und Finger weg von Kursspekulationen mit politischen Ereignissen. Wenn selbst hauptberufliche Ökonomen und Beobachter mit bemerkenswerter Regelmäßigkeit falsch liegen, kann man sich als Hobbyökonom leicht die Finger verbrennen.
Bleibt die Frage, welche Entscheidungen die Märkte prägen, wenn es immer seltener jene der Wähler an den Urnen sind. Abgesehen von den klassischen Geschäftsentscheidungen der Firmen liegen die wichtigsten Gründe für Marktbewegungen immer noch bei den Zentralbanken. Die vergangene Woche hat das einmal mehr gezeigt. Als bekannt geworden war, dass nun drei der acht stimmberechtigten Mitglieder der Bank of England für eine Zinserhöhung sind, legte das Pfund binnen Sekunden deutlich zu.
Der indirekte Einfluss
Das ist logisch, weil höhere Zinsen laut Lehrbuch Investmentzuflüsse bringen und die Währung daher aufwertet. Der FTSE 100 aber, und jetzt wird es interessant, gab fast im gleichen Ausmaß nach, und spätestens jetzt wird klar, was am Finanzplatz London tatsächlich die Aktienkurse bewegt. Es ist das Pfund, wegen des hohen Exportanteils der in London gelisteten Firmen. Eine stärkere Währung schadet den Exporteuren.
Indirekt also, wenn man so will, kann die nationale Politik auch in den globalsten Aktienmärkten schon eine gewichtige Rolle spielen. Abgesehen davon, dass sie in der Regel die Führung der Zentralbanken nominiert und so deren Geldpolitik beeinflusst, können politische Maßnahmen die Währung bewegen und damit – zumindest in Großbritannien – entsprechend die Kurse.
Wer also tatsächlich als Kleinanleger kurzfristig aus politischen Ereignissen Kapital schlagen will, sollte dieses Zusammenspiel berücksichtigen. Erfolg ist aber auch dann noch lange nicht garantiert. Also: zurücklehnen. Das Treiben der Politik, die Fehlprognosen der Ökonomen und das Agieren der professionellen Händler beobachten. Und stets die langfristige Kursentwicklung im Auge behalten.