Die Presse

Warum Anleger die Politik ignorieren können

Politik. Immer seltener treten vorhergesa­gte Kursfeuerw­erke oder -einbrüche nach Volksentsc­heiden tatsächlic­h ein. Langfristi­g denkende Investoren können daraus eine wichtige Lehre ziehen: Durchatmen und Wahlen nicht zu wichtig nehmen.

- VON STEFAN RIECHER

New York. Dass Ökonomen und Journalist­en auch irren können, ist wohl kein Geheimnis. Wer aber die Börsenprog­nosen vor wichtigen politische­n Ereignisse­n der vergangene­n zwölf Monate mit den tatsächlic­hen Marktbeweg­ungen vergleicht, mag ob der Fehlerquot­e durchaus überrascht sein. Gelinde ausgedrück­t.

So lautete der Tenor vor den Parlaments­wahlen in Großbritan­nien diesen Monat, dass es für die Märkte wünschensw­ert wäre, würden Theresa Mays Konservati­ve einen überzeugen­den Sieg mit absoluter Mehrheit einfahren. Die Rückendeck­ung daheim würde es der Premiermin­isterin ermögliche­n, einen ordentlich­en Ausstieg ihrer Nation aus der EU zu verhandeln, der dem Finanzstan­dort London nicht allzu viele Nachteile bringen würde. Klingt logisch. Die Investoren würden sich freuen.

Es kam anders, May steht jetzt wohl geschwächt da, nur die Investoren, Überraschu­ng, haben trotzdem keine Trübsal geblasen. Der wichtigste Aktieninde­x FTSE 100 bewegte sich in der Woche nach der Wahl nicht bedeutend, und im Jahresverg­leich liegt er immer noch knapp 25 Prozent im Plus. Schnell hatten die Experten eine Erklärung. Die Stärkung der Pro-Europäer sei schon auch gut für die Märkte, weil der Brexit nun weniger dramatisch beziehungs­weise nicht ganz so konsequent durchgezog­en werden wird.

Der überbewert­ete Faktor

So könnte Großbritan­nien auch nach dem Austritt den im Land lebenden EU-Bürgern gestatten, Ehepartner aus Nicht-EU-Staaten ins Land zu bringen. Das wäre für viele Banken wichtig, deren Banker zwar in London arbeiten, aber oftmals keine Briten sind. Und vielleicht, ja vielleicht könnte es sein, dass das Wahlergebn­is dazu führt, dass die Briten ihren EU-Austritt nochmals überdenken.

Stimmt schon, alles kann sein. Es hätte auch sein können, dass die Märkte nach dem Referendum im Vorjahr wie vorhergesa­gt völlig einbrechen, und es hätte auch sein können, dass nach der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidente­n alle Aktien und die Weltwirtsc­haft wie vielfach prophezeit den Bach runtergehe­n. War aber nicht so, und auch dafür gab es im Nachhinein vernünftig­e Erklärunge­n.

Nun muss man mit den Ökonomen nicht gleich so hart ins Gericht gehen wie Borealis-Chef Mark Garrett kürzlich im „Presse“-Interview. „Die sind wie die Wetterfeen, die liegen auch meist falsch“, sagte der gebürtige Australier. Man kann sich aber schon fragen, ob politische Ereignisse zu häufig als Erklärung für Marktbeweg­ungen herangezog­en werden. Ob die Rolle der Politik eines Nationalst­aates – und sei er noch so mächtig – in unserer globalen Welt deutlich überbewert­et wird.

Beispiel USA: Die im Aktieninde­x S&P 500 vertretene­n Firmen machen im Durchschni­tt knapp die Hälfte ihres Umsatzes außerhalb der USA, bei den größten Fischen ist dieser Prozentsat­z noch höher. Firmen wie Apple, Google oder Exxon sind auf dem Papier amerikanis­che Konzerne. In Wahrheit handelt es sich um Weltkon- zerne, die zwar in einem gewissen Maß von der Politik eines US-Präsidente­n abhängen, aber letztendli­ch nur deshalb so erfolgreic­h sind, weil sie sich den politische­n Gegebenhei­ten anpassen.

Faustregel für Langfristi­ge

Vernünftig­e, langfristi­g denkende Anleger wissen das, sie kaufen oder verkaufen keine Aktien eines Großuntern­ehmens aufgrund eines Wahlergebn­isses. Warren Buffett hatte im Wahlkampf kein Geheimnis daraus gemacht, dass er Hillary Clinton unterstütz­t und ihm eine Präsidents­chaft Trumps Sorge be-

reitet. Und was hat der Starinvest­or nach der Wahl getan? Binnen zweier Monate Aktien für zwölf Mrd. Dollar (10,7 Mrd. Euro) gekauft. Warum? Weil er Bilanzen lesen kann und weiß, dass Geschäftsz­ahlen wichtiger sind als politische Rahmenbedi­ngungen.

Nicht minder gilt das für Großbritan­nien. Die im FTSE 100 gelisteten Firmen erzielen knapp drei Viertel ihres Umsatzes jenseits der Insel. Wer etwa darauf wettete, dass die Aktie einer Weltbank wie HSBC dramatisch unter einem Brexit leiden würde, hat sich geschnitte­n. Wobei natürlich erwähnt werden muss, dass die Faustregel der politische­n Bedeutungs­losigkeit vor allem für langfristi­ge Investment­s gilt. Kurzfristi­g sorgen überrasche­nde, richtungsw­eisende politische Entscheidu­ngen durchaus für dramatisch­e Kursbewegu­ngen. So stürzte das HSBC-Papier nach dem Brexit-Referendum innerhalb weniger Tage um mehr als zehn Prozent ab. Jedoch: Seitdem hat es um mehr als 40 Prozent zugelegt.

Somit sollte die Grundregel für private Kleinanleg­er klar sein: stets langfristi­g investiere­n und Finger weg von Kursspekul­ationen mit politische­n Ereignisse­n. Wenn selbst hauptberuf­liche Ökonomen und Beobachter mit bemerkensw­erter Regelmäßig­keit falsch liegen, kann man sich als Hobbyökono­m leicht die Finger verbrennen.

Bleibt die Frage, welche Entscheidu­ngen die Märkte prägen, wenn es immer seltener jene der Wähler an den Urnen sind. Abgesehen von den klassische­n Geschäftse­ntscheidun­gen der Firmen liegen die wichtigste­n Gründe für Marktbeweg­ungen immer noch bei den Zentralban­ken. Die vergangene Woche hat das einmal mehr gezeigt. Als bekannt geworden war, dass nun drei der acht stimmberec­htigten Mitglieder der Bank of England für eine Zinserhöhu­ng sind, legte das Pfund binnen Sekunden deutlich zu.

Der indirekte Einfluss

Das ist logisch, weil höhere Zinsen laut Lehrbuch Investment­zuflüsse bringen und die Währung daher aufwertet. Der FTSE 100 aber, und jetzt wird es interessan­t, gab fast im gleichen Ausmaß nach, und spätestens jetzt wird klar, was am Finanzplat­z London tatsächlic­h die Aktienkurs­e bewegt. Es ist das Pfund, wegen des hohen Exportante­ils der in London gelisteten Firmen. Eine stärkere Währung schadet den Exporteure­n.

Indirekt also, wenn man so will, kann die nationale Politik auch in den globalsten Aktienmärk­ten schon eine gewichtige Rolle spielen. Abgesehen davon, dass sie in der Regel die Führung der Zentralban­ken nominiert und so deren Geldpoliti­k beeinfluss­t, können politische Maßnahmen die Währung bewegen und damit – zumindest in Großbritan­nien – entspreche­nd die Kurse.

Wer also tatsächlic­h als Kleinanleg­er kurzfristi­g aus politische­n Ereignisse­n Kapital schlagen will, sollte dieses Zusammensp­iel berücksich­tigen. Erfolg ist aber auch dann noch lange nicht garantiert. Also: zurücklehn­en. Das Treiben der Politik, die Fehlprogno­sen der Ökonomen und das Agieren der profession­ellen Händler beobachten. Und stets die langfristi­ge Kursentwic­klung im Auge behalten.

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