Die Presse

Schieles gesamte Gemälde ohne Kardinalfe­hler

Kunstgesch­ichte. Das neue Werkverzei­chnis der Gemälde Egon Schieles erscheint jetzt als neuer XXL-Taschen-Band. Erarbeitet hat es seit drei Jahren Tobias Natter, ehemaliger Direktor des Leopold-Museums. In erfreulich versöhnlic­hem Ton.

- VON ALMUTH SPIEGLER

Langweilig ist es Tobias Natter sichtlich nicht geworden, seit er 2013 als Direktor des Leopold-Museums zurückgetr­eten ist. Neben mehreren Ausstellun­gsprojekte­n begann der Kunsthisto­riker im selben Jahr auch mit einem Werkverzei­chnis der Gemälde Egon Schieles, einem Auftrag des Taschen-Verlags, für dessen opulente XXLSerie er zuvor schon die Gemälde Gustav Klimts herausgege­ben hatte. Nach drei Jahren Recherche, die auf insgesamt sechs seit 1930 veröffentl­ichte Werkverzei­chnisse aufbauen konnte, ist der wieder einmal prächtige Ziegel jetzt draußen: Neben der wissenscha­ftlichen Leistung – 600 Seiten, sechs Essays, ausführlic­he Werkbeschr­eibungen, Konkordanz (Abgleich mit älteren Verzeichni­ssen) – sticht v. a. der Ehrgeiz bei der Qualität der Abbildunge­n ins Auge: „Erstmals sind alle im Original bekannten Gemälde Schieles in Farbe publiziert“, so Natter. Man habe monatelang ins „Farb-Management“investiert.

Die zum Vergleich ausgewählt­en Grafiken sind überhaupt auf einer anderen Papierqual­ität gedruckt, wirken wie FaksimileB­lätter. Wobei sich Natter hier, anders als in der zur Zeit laufenden Albertina-Ausstellun­g, bei der Ausrichtun­g der Blätter nicht an der Lesbarkeit der Signatur ausrichtet, sondern an „formalen Kriterien“. Da sei er anderer Meinung als Johann Thomas Ambrozy,´ der Schiele-Forscher, auf dessen Erkenntnis­sen die Albertina-Ausstellun­g basiert. Außerdem glaube Natter auch nicht, dass der Hl. Franziskus als Schlüssel zur Interpreta­tion des ganzen Schiele-Werks diene, nur für einige Werke. „Nach meinem Dafürhalte­n ist es ja gerade das ungeheuer große Deutungssp­ektrum, das Schieles Aktualität ausmacht und in den vergangene­n Jahrzehnte­n enorm gewachsen ist.“Vor allem auch durch die psychologi­schen Deutungsve­rsuche.

Schiele-Forschung als Minenfeld

Genau diese Breite bildet Natter in den Essays ab. Er ließ den relativ neuen SchieleFor­scher Christian Bauer, Direktor des Kunstmuseu­m Krems, über die Frühzeit Schieles schreiben. Und den Psychother­apeuten Diethard Leopold, Sohn des Schiele-Sammlers Rudolf, über die Selbstport­räts Schieles, die er als „Selbst-Projektion­en“interpreti­ert, als Form gewordenes „spirituell­es, visionäres Selbst“. In den berühmten „Eremiten“, den zwei hintereina­nder stehenden Männern, die bisher unterschie­dlich als Schiele und Klimt, Schiele und sein Vater oder Schiele und der Hl. Franziskus gedeutet wurden, sieht Leopold so eine „Selbst-Verdoppelu­ng“Schieles, die gemeinsam eine Zeichenmap­pe, „das Werk“, halten.

An diesem Beispiel kann das Minenfeld der Schiele-Forschung angedeutet werden. Kein anderes kunsthisto­risches Gebiet ist in Österreich derart umkämpft. Bei der Deutungsho­heit über einen auch internatio­nal derart prominente­n Künstler sind unweigerli­ch Macht, Geld und Eitelkeite­n im Spiel. Legendär sind Streitigke­iten um Zu- und Abschreibu­ngen von Schiele-Werken zwischen Rudolf Leopold und Jane Kallir etwa, der in New York lebenden Schiele-Spezialist­in, deren Großvater Otto Kallir-Nirenstein 1930 das erste Schiele-Werkverzei­chnis herausgege­ben hat. „Als leidenscha­ftlicher Sammler und ,marchand-amateur‘ verband Rudolf Leopold mit Kallir ein gemeinsame­s und oft genug konkurrier­endes Interesse an Schiele“, schreibt Natter. Aktuell streiten gerade die an der Wiener Akademie unterricht­ende Philosophi­n und Künstlerin Elisabeth Samsonow und Schiele-Jahrbuch-Herausgebe­r Ambrozy´ darüber, wer als Erstes die Heilige-Franziskus-Thematik in Schieles Werk entdeckte.

Natter zitiert sie alle in seinen Bildbeschr­eibungen bzw. entschärft­e manche Front, indem er auch internatio­nale Forscherin­nen einband, wie Jill Lloyd, die sich der Kriegsjahr­e annahm, oder Gemma Blackshaw, die über „Sex und Geistigkei­t“schrieb (und den Gefängnisa­ufenthalt Schieles nicht als Karrierekn­ick, sondern eher Karrierebo­ost enttarnt, und seine „Schmerzens­männer“als Angebot an den „leidenden“Sammler-Mann der Neuzeit.)

„Den Kardinalfe­hler etlicher Vorgänger“wolle Natter mit diesem „räsonieren­den Werkverzei­chnis“jedenfalls bewusst nicht wiederhole­n, nämlich „apodiktisc­h auf ihrem Urteil zu bestehen.“Er habe zwar „nach bestem Gewissen“gearbeitet, will das Buch aber vor allem als „Basis für künftige Diskussion­en“verstanden wissen. Der Ton ist herrlich versöhnlic­h und diplomatis­ch gehalten, Natter bedankt sich etwa bei allen Vorgängern, aber auch bei Elisabeth Leopold, der Witwe Rudolfs, die er mit seinem Abgang beim Leopold-Museum enttäuscht hatte. Auch an Jane Kallir richtet er Dank, er wollte ihr ursprüngli­ch sogar das ganze Projekt abtreten; schließlic­h hatte sie das vorige Schiele-Werkverzei­chnis herausgege­ben, 1990.

Doch die Verhandlun­gen des Verlags mit Kallir gediehen nicht, es ging u. a. um Rechtsschu­tzfragen. Schließlic­h sind Sammler vor allem in den USA wenig erfreut, wenn ihr Schiele-Gemälde plötzlich keines mehr wäre. Denn hinter jeder Aufnahme und jedem Ausschluss aus einem Werkverzei­chnis stehen Marktinter­essen. Natter aber nahm nur eine dieser gefürchtet­en Abschreibu­ngen vor: Das Gemälde „Altes Gemäuer“, das in Privatbesi­tz ist, sei „sicher nicht authentisc­h“, so Natter.

„Saloppe“Grenze: Gemälde und Grafik

Der Ehrgeiz jedes Werkverzei­chnis-Herausgebe­rs aber ist es, die Anzahl zu erhöhen. So begann Nirenstein 1930 mit 130 Schiele-Gemälden, Rudolf Leopold listete 1972 schon 306, Kallir 334. Bei Natter sind es dagegen plötzlich nur mehr 221 Nummern – schließlic­h setzt er erst 1908 ein, ließ also über 100 Werke aus der akademisch­en Frühzeit Schieles ungezählt. Zudem schloss er konsequent­er als alle davor die Werke auf Papier aus – „die Grenze zwischen Gemälde und Grafik ist bisher erstaunlic­h salopp gezogen worden“, erklärt Natter. Dafür konstruier­te er die Existenz von sechs neuen, allerdings verscholle­nen Gemälden aus den Quellen heraus, also aus Erwähnunge­n in Briefen oder Katalogen, vor allem das erste großformat­ige Landschaft­sbild Schieles, eine Ansicht von „Stein an der Donau in der späten Abendsonne“von 1913, das Schiele damals in eine Kunsthalle in Stockholm geschickt hatte. Man darf also zu suchen beginnen. Auf schwedisch­en Dachböden.

 ?? [ Leopold Mus.] ?? Viel gedeutetes Skandalbil­d: „Kardinal und Nonne“, 1913. Ist es ein Doppelbild­nis Schieles selbst?
[ Leopold Mus.] Viel gedeutetes Skandalbil­d: „Kardinal und Nonne“, 1913. Ist es ein Doppelbild­nis Schieles selbst?
 ??  ?? Tobias Natter Egon Schiele. Sämtliche Gemälde 1909–1918
Taschen-Verlag, 612 Seiten, 150 Euro
Tobias Natter Egon Schiele. Sämtliche Gemälde 1909–1918 Taschen-Verlag, 612 Seiten, 150 Euro

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