In den linearen Eingeweiden von Nitschs Utopie
Ausstellung. Gerade feierte Hermann Nitsch einen Überraschungserfolg in Tasmanien. In Mistelbach entpuppt sich derweil seine Druckgrafik als Blick in die wahren Abgründe seines Theaters. Trotzdem bleibt: das Warten aufs Sechs-Tage-Spiel.
In Wien, wo jeder Taxifahrer „den Nitsch“kennt, wäre das höchstens ein Lacherfolg. Im australischen Hobart, der Hauptstadt von Tasmanien, funktionierte der Schmäh aber, jedenfalls vor dem Tag der Tage: Rita und Hermann Nitsch wurden tatsächlich unter Pseudonym im Hotel eingecheckt, aus Sicherheitsgründen – Familie Clark. Nitsch, ein „Superman“(mit bürgerlichem Namen Clark Kent) mit weißem Bart also? Wie ein Superstar zumindest, so berichtet es jedenfalls Rita Nitsch, wurde Hermann Nitsch nach seiner 150. Aktion behandelt, die beim Winterfestival „Dark Mofo“(280.000 Besucher) stattfand. Es gab sogar auf der Straße Glückwünsche von allen Seiten.
Davor kam es allerdings zu Protesten, wie man sie in Österreich schon länger nicht mehr kennt. Tierschützer sammelten 20.000 Unterschriften gegen die Verwendung eines Stierkadavers. Bei der Aktion selbst tauchte nur noch eine Handvoll Protestanten auf, die nicht weiter störte. In einer Halle am Hafen konnten 30 Akteure und 20 Musiker, ein toter Stier und Tausende Liter Blut schließlich ungestört Nitschs Orgien-Mysterien-Theater dienen, dieser streng ritualisierten Feier der Sinne, die von Tod und Leben, Fäulnis und Duft, Liebe und Mord erzählt. 2018 wird Nitsch, dieser große österreichische Dramatiker, der den Wiener Aktionismus in eine scheinbar endlose GesamtkunstwerksSchleife goss, 80. Wo wird sie stattfinden, die große Retrospektive zu seinen Ehren?
Abgründige Druckgrafik
Sicher auch, aber hoffentlich nicht nur – jetzt kommt der Sprung vom tiefsten Tasmanien ins tiefste Niederösterreich – im Mistelbacher Nitsch-Museum. Dort wurde unlängst die Jahresausstellung eröffnet, die diesmal das druckgrafische Werk des Aktionisten präsentiert. Sozusagen die stillere Seite Nitschs, könnte man vermuten. Sie ist neben seiner von Artauds Theater der Grausamkeiten geprägten Literatur allerdings die abgründigste seiner vielen Ausdrucksmöglichkeiten. Das hat offenbar auch Albertina-Direktor Klaus Albrecht Schröder überrascht, der die Eröffnungsrede hielt und von seinen zwiespältigen Gefühlen erzählte, die ihn zuvor befielen – Druckgrafik der 1970er-Jahre, war das nicht der „Niedergang der Edition“zum hundertfach reproduzierten Nebenprodukt? Reine Rhetorik natürlich. Denn erstens war Nitsch, der an der Graphischen lernte, vertraut mit den Techniken. Zweitens legte er Wert auf kleine Editionen, viele Blätter sind sogar Einzelstücke, wenn etwa auf mit Schweineblut beschüttetem Büttenpapier gedruckt wurde. Das tat er zum Beispiel mit dem Drucker Kurt Zein, der neben der Druckerei Imhof Nitschs Druckgrafik seit den 80er-Jahren prägte.
Diese feinen, linearen Zeichnungen in teils riesigen Formaten sind in vielem un- heimlicher als die Aktionen selbst. In ihnen wird die wuchernde Architektur des OrgienMysterien-Theaters (OMT) sichtbar, so, wie Nitsch sie sich wirklich wünscht, durchaus inspiriert von Architektenkollegen seiner Zeit, von Pichler, Abraham, Hollein: Nitschs „Bayreuth“aber ist nicht realisierbar, es liegt nicht in Prinzendorf, sondern unter der Erde und unter der Haut, entweder in unterirdischen Stockwerken übereinandergestapelt, in Labyrinthen, die einen Aktionsraum an den anderen reihen oder im menschlichen Organismus selbst, in den Hirn- und Darmwindungen, in Herz und Nieren.
Wir kommen unseren archaischen Mustern nicht aus, das konnte der 19-Jährige im Wien der Nachkriegszeit so deutlich spüren, 1957, als er erstmals die Grundzüge des OMT niederschrieb. Das vermeint man heute wieder zu spüren, wenn Kinderopferungen (Selbstmordattentäter, Kindersoldaten) und Schlachtungen, Hinrichtungen, Folter wieder näher rücken. Nein, die Grafik ist bei Nitsch alles andere als ein Nebenprodukt. Sie ist eine wesentliche Stimme seiner utopischen Chor-Symphonie, eine tragende, konstruktive im wahrsten Sinne. Sie bettet den menschlichen Umriss zwar gern in altmeisterliche Zusammenhänge, ob als Teil eines „Letzten Abendmahls“oder einer „Grablegung“. Aber der Einblick ins Innere ist immer offen. Hier geht es ums Eingemachte.
Einmal noch will Nitsch die Essenz aus all dem für sich und uns inszenieren, einmal noch soll es ein Sechs-Tage-Spiel geben, wie es 1998 schon einmal in Prinzendorf gestemmt wurde. Geplant war es zu seinem 80er. Darauf wurde hingespart. Durch den Einbruch im Schloss, die folgende (und nach vier Jahren mittlerweile abgeschlossene) Steueraffäre jedoch mussten die Kräfte vor allem von Rita Nitsch anders eingeteilt werden. Doch vielleicht hat Österreich ja mehr, als man denkt, von Australien, wo die 1000 Tickets für die 150. Nitsch-Aktion in drei Stunden ausverkauft waren.