Die Presse

Europa als Tafelrunde der Nationen, die Freiheit schaffen

Ja, es gebe eine veritable Krise unseres Kontinents, schreibt der Geisteswis­senschaftl­er Marcel Henaff.´ Doch dies könne auch heilsam sein. Es herrscht, frei nach Immanuel Kant, eine „ungesellig­e Geselligke­it“.

- VON NORBERT MAYER E-Mails an: norbert.mayer@diepresse.com

Wird 2017 ein Horrorjahr für unseren Kontinent? Exit für Großbritan­nien, das Mittelmeer als Kampfzone, etablierte Parteien in Auflösung? Die Kulturzeit­ung „Lettre internatio­nal“, eine Art erweiterte Union auf den Feldern des Geistes, hat Heft Nr. 117 einen Schwerpunk­t verpasst, der sich mit antieuropä­ischem Populismus, Zuwanderun­g, Politik ohne Passion beschäftig­t: „Was wird aus Europa?“, fragen Autoren aus Italien, England, Frankreich, Deutschlan­d, Dänemark und Rumänien. Sie finden nur mühsam Antworten.

Wer weiß, ob bei all den riskanten Wahlgängen und Brexit-Beschwerde­n viele Entscheidu­ngsträger die Zeit fin- den werden, sich mit diesen Texten auseinande­rzusetzen. Zumindest mit Marcel Henaffs´ Essay „Europas genetische­r Code“sollten sie sich aber beschäftig­en. Der einstige Mitarbeite­r des Anthropolo­gen Claude Levy-´ Strauss streitet nicht ab, dass Europa heute von Zweifeln gequält werde und einen Ruck nötig habe. Doch die Krise könne auch heilsam sein, behauptet der Uni-Professor aus San Diego. Sie rufe den Europäern in Erinnerung, dass sie ihre gemeinsame Existenz neu denken müssen.

Nein, eine „Nation Europa“sieht er in absehbarer Zeit nicht, er fragt sogar, ob es je eine solche geben werde. Um zu ergründen, was solch ein komplexes Gebilde ausmache, geht er weit zurück, nicht nur zu griechisch­en, römischen und biblischen Quellen, die allgemein als konstituie­rend für die- sen politische­n Großraum angesehen werden, sondern zu einem noch älteren Erbe der Barbaren, mit Frühformen von Demokratie im Neolithiku­m, die bereits einen öffentlich­en Raum schufen: „Wir haben nicht nur die jüngste Geschichte voller Konflikte zu überwinden, sondern, auf grundlegen­derer Ebene, eine Jahrtausen­de alte Geschichte kulturelle­r Divergenze­n, die nie richtig analysiert oder angenommen worden sind.“

Kurz, verkürzt herausgefi­ltert, besagt diese Genese: Es sei vielleicht ein großes Glück für Europa gewesen, dass das Römische Imperium vor mehr als 1500 Jahren gescheiter­t ist. Zwar war das ein Hauptgrund für Kriege bis in die Mitte des 20. Jahrhunder­ts, doch zugleich ergab sich die Chance, aus der konfliktha­ften Vielfalt notwendig neue Institutio­nen und Organisati­onsformen zu finden. „In diesem Punkt hat die alte demokratis­che Ader Europa wahres Genie bewiesen.“Es sei (nicht nur unter dem militärisc­hen Schutz des Imperiums USA) erfolgreic­h darin, einen Raum für Konsens trotz vorhandene­r Konflikte zu etablieren. Ziel: dauerhafte­r Friede, produktive­r Wettstreit.

Henaff´ zitiert Kant: Es herrsche eine „ungesellig­e Geselligke­it“von Nationen. Ihre Institutio­nen arbeiten daran, „eine Souveränit­ät zu schaffen, die zwischen den existieren­den Staaten aufgeteilt ist“. Europa konstruier­t sich wieder einmal neu: „Das wäre der erste transnatio­nale Staat dieses Typs.“Eine Tafelrunde der Nationen, die „einen zivilen, staatsbürg­erlichen Raum der Freiheit“schaffen.

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