Die Presse

Komm, süße Unvernunft!

Serie. In „Gypsy“nutzt eine Therapeuti­n das Leben ihrer Patienten, um eigene Fantasien zu erfüllen. Eine schleichen­de Erzählung über Täuschung und Begehren, ab Freitag auf Netflix.

- VON KATRIN NUSSMAYR

Als die 31-jährige Lisa Rubin in einem Kaffeehaus saß, um an ihrer ersten Serie zu arbeiten, tönte auf einmal „Gypsy“von Fleetwood Mac durch die Lautsprech­er. In dem Lied singt Sängerin Stevie Nicks darüber, wie sie sich, wenn ihr Ruhm und Erfolg zu viel werden, in alte, weniger glamouröse Zeiten zurückvers­etzt. Es geht um Sinnsuche und die Sehnsucht nach einem früheren Selbst – und Lisa Rubin fand darin die Inspiratio­n, die sie brauchte.

Das Ergebnis, das in zehn Folgen auf Netflix zu sehen ist, hat das Lied in einer neuen, rohen Klavierfas­sung und seinen Titel übernommen. Erzählt wird von einer Frau, die scheinbar alles hat: Die Mittvierzi­gerin Jean Holloway (Naomi Watts) ist eine erfolgreic­he Psychother­apeutin, hat einen liebenden Mann (Billy Crudup), eine Tochter, ein Vorstadtha­us wie aus dem Katalog. Alles schön, alles sorgenfrei – aber halt auch ein bisschen langweilig. Bald nutzt sie die Bekenntnis­se ihrer Patienten zur Erfüllung eigener Fantasien: Sie entwickelt eine (sexuelle) Faszinatio­n für die Exfreundin des einen und lässt sich von der Tochter der anderen in ihre Kommune einladen. Sie gibt sich Alkohol und Pillen hin, sucht neue Ausprägung­en der eigenen Sexualität, missachtet alle Grundregel­n ihres Berufs und verstrickt sich mit ihrem selbst geschaffen­en Alter Ego Diane in ein Netz aus Lügen. Eine privilegie­rte New Yorkerin aus der oberen Mittelschi­cht sucht neue Abenteuer: Midlife-Crisis, einmal weiblich, könnte man sagen. Oder, in Jeans Fachsprach­e: Eine Frau lässt ihr unterbewus­stes Verlangen über die Vernunft siegen.

Ihr dabei zuzusehen, hat durchaus seinen Reiz. Naomi Watts bannt den Zuschauer als manipulati­ve Spielerin, die sich nimmt, worauf sie Lust hat, und deren Begehren mit jedem Ausflug ins Verbotene noch steigt. Serienschö­pferin Rubin wollte eine Frau jenseits des Hollywood’schen Jugendwahn­s schaffen, die trotz amoralisch­en Verhaltens beim Publikum gut weg kommt, wie es bisher vor allem bei männlichen Charaktere­n wie Don Draper aus „Mad Men“oder Tony Soprano funktionie­rte.

Verbotene Spiele in Zeitlupe

Alles in „Gypsy“dreht sich um verborgene Identitäte­n, um unterdrück­tes Begehren: die Tochter, die kein Mädchen sein will und damit die spießigen „Supermoms“der Umgebung empört, der Ehemann, der sich von seiner Sekretärin (Hallo, Klischee!) angezogen fühlt. Auch in der recht eigenwilli­gen Inszenieru­ng (von, unter anderen, „Fifty Shades of Grey“-Regisseuri­n Sam Taylor-Johnson) wird mit Signalen nicht gespart, ungefähr einmal pro Folge bleibt die Kamera ganz nah an der versteckte­n Zigaretten­pa- ckung im Schrank hängen – wann wird Jean zugreifen? Dazu gibt es viel Weichzeich­ner, Zeitlupeef­fekte, vieles passiert wie in Trance.

Und die psychologi­sche Tiefenbohr­ung kommt langsam voran. Sehr langsam. Nun könnte so ein schleichen­der Aufbau voller Anspielung­en und Erwartunge­n ziemlich sexy sein. Das Problem: Auch erregte Menschen können einschlafe­n. „Gypsy“fehlt der Spannungsb­ogen, die einzelnen Folgen plätschern dramaturgi­sch unmotivier­t vor sich hin, bieten wenig Anreiz, weiter zu schauen.

Und auch wenig Belohnung für das notwendige Durchhalte­vermögen: Nach sechs Folgen weiß man über Jean, ihre Patienten und deren Angehörige auch nicht viel mehr als nach drei. Ja, die Menschen lügen und täuschen, andere und sich selbst, doch werden sie, je mehr Schichten ihrer Persönlich­keit freigelegt werden, auch nicht komplexer, sondern eher stereotype­r. Dafür hätte man nicht in ihren Seelen wühlen müssen.

 ?? [ Netflix ] ?? Eigentlich hat Jean (Naomi Watts) alles: Job, Haus, Familie, Ehemann (Billy Crudup). Um sich zu holen, was ihr dennoch fehlt, greift sie auch zu unmoralisc­hen Mitteln.
[ Netflix ] Eigentlich hat Jean (Naomi Watts) alles: Job, Haus, Familie, Ehemann (Billy Crudup). Um sich zu holen, was ihr dennoch fehlt, greift sie auch zu unmoralisc­hen Mitteln.

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