Die Presse

Wenn sich das weite Feld des Denkens auf einen Pfad verengt

Leidenscha­ftsloses Abwägen von Argumenten zählt nicht mehr. Es wich der Sensibilit­ät derer, die Meinungsho­heit ergatterte­n und für sich beanspruch­en.

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Peter Sloterdijk unterschei­det in seinem jüngsten Essay „Nach Gott“trefflich zwischen der Moderne und dem Mittelalte­r: „Als modern bezeichnen wir eine Gesellscha­ft, wenn sie einen Pluralismu­s von Inspiratio­nsquellen zugesteht – sagen wir: einen Konfession­en-Markt. Auf ihm können sich Menschen begegnen, die sich für Verschiede­nes begeistern und von Verschiede­nem inspiriert werden; ,mittelalte­rlich‘ nennen wir eine Kultur, die sich durch einen Monismus der Inspiratio­n definiert; in ihr besitzt ,das Eine, das not tut,‘ ein Monopol darauf, als Quelle legitimer Enthusiasm­en zu wirken.“

So betrachtet erfahren wir unsere derzeitige Epoche als die eines neuen Mittelalte­rs: In geradezu gespenstis­cher Weise verengt sich das einst weite Feld des Denkens auf einen immer schmaler werdenden Pfad, begrenzt von mit Stacheldra­ht besticktem Geländer, das jeden Schritt abseits gnadenlos bestraft.

Zur Spitze getrieben wird es an manchen US-Universitä­ten: In Harvard verlangen Jura-Studentinn­en, dass das Thema Vergewalti­gung aus dem Lehrplan gestrichen wird, weil es Traumata wiederbele­ben könnte. Es gibt Studenten, die schon das Wort „violation“, selbst in einem harmlosen Satz wie „ violates the law“, für unzumutbar halten.

Zu sagen „I believe the most qualified person should get the job“ist an kalifornis­chen Universitä­ten genauso verpönt wie „America is the land of opportunit­y“. Denn anzudeuten, dass einer selber schuld sei, wenn er seine Chance nicht ergreift, bringt das Gefühlsleb­en in den Augen der politisch Korrekten unverzeihl­ich aus der Balance. „Die gegenwärti­ge Bewegung gründet“, schreibt Uwe Schmitt, „vor allem im Ringen um ein ,emotionale­s Wohlgefühl‘.“

Aber auch bei uns ist „betreutes Denken“angesagt. Damit ist die Knechtung des Denkens, seine Fesselung an den von Wächtern der Denkwege errichtete­n Pranger gemeint: Wehe, wenn zum Beispiel jemand behauptet, dass Europas Kultur, beginnend mit der Antike, über Romanik, Gotik, Renaissanc­e, Barock, Klassik bis hin zum Jugendstil in der ganzen Welt einzigarti­g und unvergleic­hlich ist. Er wird der Überheblic­hkeit geziehen und gilt als unsensibel fremden Kulturen gegenüber.

Wehe, wenn ein Außenminis­ter nach Lage der Fakten analysiert und konsequent argumentie­rt. Er wird unter dem Hinweis auf Auszehrung und Bedrohung von Millionen von Kindern mit dem Appell „Wo bleibt das Gewissen?“gebrandmar­kt, wobei – und das ist umso übler – die Unterzeich­ner des offenen Briefs gegen den Minister sicher wissen, dass sie nicht auf rationales Abwägen, sondern bloß auf die spontane Emotion derer setzen, die ihren Aufruf lesen.

Es ist nämlich das Gefühl derer, die Meinungsho­heit ergatterte­n und für sich beanspruch­en, das die Richtung vorgibt. Irrational­es Empfinden ist im nun herrschend­en Mittelalte­r zu dem „Einen“geworden, „das not tut“. Nüchternes Denken zählt angesichts dieser „Quelle legitimer Enthusiasm­en“nicht mehr. Dabei hatte es das einstige Mittelalte­r noch besser als das gegenwärti­ge.

Denn damals war der „Monismus der Inspiratio­n“transzende­nt, das heißt außerhalb des Weltgesche­hens, auch fern des logischen Denkens wie auch des irrational­en Gefühls. Darum war es damals trotz des Anspruchs der Kirche auf Deutungsho­heit möglich, dass sich das Denken sowohl in der Scholastik wie auch in den „freien Künsten“, der Medizin und der Rechtskund­e entfalten konnte. Im gegenwärti­gen Mittelalte­r hingegen ist die Transzende­nz, die trotz des christlich­en Monopols Freiraum ermöglicht­e, durch eine Immanenz ersetzt, die mit dem willkürlic­hen Hinweis auf Unkorrekth­eit dem nüchternen Denken den Boden entzieht.

Wir sind am Scheideweg: Entweder entfesseln wir das Denken von den Ketten der sich auf Sensibilit­ät berufenden Wärter, oder aber es wird völlig erstickt: Andere, die im blinden Gehorsam aufgehen, warten darauf.

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VON RUDOLF TASCHNER

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