„Das Misstrauen ist größer denn je“
Interview. Ex-Verwaltungschefin Anson Chan zieht nach 20 Jahren eine bittere Bilanz.
Die Presse: Ist die Teilnahme des chinesischen Staatschefs, Xi Jinping, an den Feierlichkeiten eine Provokation? Anson Chan: Ich bin mir sicher, dass viele Leute gegen ihn auf die Straße gehen werden. Die Sicherheitskräfte werden aber garantiert alles tun, dass Xi die Proteste nicht zu sehen bekommt.
Wie blickt die Mehrheit der Hongkonger heute auf 1997? 20 Jahre nach der Übergabe fühlen sich die meisten Hongkonger weiterhin nicht mit China verbunden. Das Misstrauen ist größer denn je. Patriotische Gefühle kann man nicht erzwingen. Ein Staat muss sich das verdienen. Solange die Hongkonger aber lesen müssen, dass auf dem chinesischen Festland Menschenrechtsanwälte in Haft gesteckt werden, die Presse unterdrückt wird und soziale Medien zensiert werden, gewinnt China die Herzen der Menschen nicht.
Sie waren damals die Garantin für Hongkongs Status quo. Ich habe damals gesagt: Alles wird so bleiben, wie es ist. Hätte ich gewusst, wie es kommen wird – ich hätte das Amt nie angetreten.
Was ist das Problem? Ich hätte nicht erwartet, wie rasch und konsequent Peking sein Versprechen bricht. Nicht nur, dass China sich immer dreister in unsere Angelegenheiten einmischt und unsere Freiheiten sukzessive abbaut. Die junge Generation sieht keine Perspektive mehr. Ihre Jobaussichten sind schlecht. Zugleich hat Hongkong die höchsten Immobilienpreise der Welt.
Was kann Hongkong tun? Hongkongs Stärke liegt im Grundsatz „Ein Land, zwei Systeme“. Wenn die derzeitige Hongkonger Regierung zulässt, dass uns eine gut funktionierende Verwaltung, eine unabhängige Justiz und Informationsfreiheit genommen werden, ist Hongkong nicht mehr not- wendig. Wir unterscheiden uns dann nicht mehr von anderen chinesischen Städten.
Ist Peking nicht viel zu mächtig? Die Führung in Peking versucht, über ihre Propagandamaschine Einfluss auf die Stadt auszuüben. Vor allem hat Peking unendlich viel Geld. Umso mehr muss sich eine Hongkonger Regierung zur Wehr setzen. Schon bei den Übergabeverhandlungen damals wussten wir: Mit der Führung in Peking muss man hart verhandeln. Sonst wird man nicht ernst genommen.
Ist Unabhängigkeit eine Option? Keinesfalls. Die meisten wissen, dass ein unabhängiges Hongkong nicht lebensfähig wäre. Zugleich ist die Forderung sehr gefährlich. Für Peking ist die Ein-China-Politik sakrosankt. Wird sie infrage gestellt, ist die Führung auch bereit, zu harten Mitteln zu greifen. (lee)