Ein Schlachtfeld der Ideologien
Analyse. Für Peking hat das Jubiläum der Übergabe Hongkongs hohe Symbolik: Die Stadt galt als letzte Bastion des Kolonialismus in China.
me“– diesen Grundsatz hatte London damals mit der KP-Führung unter dem damaligen Reformer Deng Xiaoping ausgehandelt. Bis 2047 sollten die Hongkonger ihre eigenen Institutionen behalten, ihre Währung, ein autonomes Zoll- und Steuergebiet. „Nur die Fahne und der Regierungschef würden ausgetauscht“, versicherte Deng.
Viele Hongkonger wandern aus
Anfangs habe es nur graduell chinesische Einmischungsversuche gegeben, berichtet Joseph Cheng, emeritierter Politologe der Universität Hongkong. „Sie waren anwesend, aber nicht zu sehen.“Doch nach fünf Jahren sei die Einflussnahme immer offensichtlicher geworden. Heute gibt das Verbindungsbüro vor, wer welche Spitzenposten bekleiden darf und was Medien zu berichten haben. Wie der Fall der Peking-kritischen Buchhändler zeigte, hat China keine Scheu, Hongkonger aufs Festland zu entführen. Nachdem sie verschwunden waren und ihre Angehörigen tagelang nichts von ihnen hörten, tauchten sie mit Geständnissen im chinesischen TV auf. Die Hongkonger Führung hielt still.
Viele Hongkonger haben die Stadt verlassen. So auch Lims Tanten und Onkeln. Sie seien schon vor der Übergabe nach Kanada ausgewandert. Lims Vater blieb, er hatte gerade auf dem Festland lukrative Geschäftsbeziehungen aufgebaut. Jeden Morgen sei er mit einem Lkw voll Kleidung und Elektronik über die Grenze gefahren. Dieses Geschäft währte nur kurz. Hongkonger Unternehmer verlagerten ihre Fabriken nach drüben. Die Auswanderung ist nur noch mit viel Geld möglich. Und nun? Ganz hat Lim die Hoffnung nicht aufgegeben: „Auf Dauer kann niemand gegen das eigene Volk regieren.“Am Samstag geht er demonstrieren. Wien/Hongkong. „Hongkong hat mir schon immer das Herz zerrissen“, sagte Chinas Staatschef Xi Jinping bei seinem ersten offiziellen Besuch in der chinesischen Sonderverwaltungszone. 20 Jahre nach der Übergabe stellt die ehemalige britische Kronkolonie China vor eine Bewährungsprobe: Die tiefe soziale Spaltung der Hafenmetropole offenbart einen ideologischen Kampf zwischen demokratischen und sozialistischen Elementen.
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Als die königliche Jacht Britannia am 1. Juli 1997 aus dem Victoria Harbour auslief, markierte es das Ende der 156-jährigen Kolonialherrschaft über Hongkong – und des britischen Empires. Nach Invasionsdrohungen der Volksrepublik hatten sich London und Peking geeinigt, Hongkong völlig chinesischer Souveränität zu unterstellen. Unter einer Bedingung: Gemäß dem Prinzip „Ein Land, zwei Systeme“sollte die Stadt 50 Jahre politisch und wirtschaftlich unabhängig bleiben. „Was wäre, wenn Hongkong die Kontrolle über China übernähme?“, fragte der „Economist“. Dann könnte es die Kommunisten zur Reform verführen.
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Es sind die Protestkultur, kritische Medien und unabhängige Gerich- te, die Hongkong noch heute vom Rest Chinas unterscheiden. Doch die vermutliche Entführung Peking-kritischer Buchhändler, die Verurteilung patriotischer Abgeordneter, die Einsetzung der KPfreundlichen Carrie Lam als Regierungschefin, der wachsende Druck auf Journalisten und Unis nähren die Angst, die Autonomie Hongkongs werde schon vor 2047 untergraben. Besonders die Jugend begehrt auf: Seit der Regenschirmbewegung 2014 werden die Forderungen nach mehr Demokratie und sogar nach Unabhängigkeit immer radikaler.
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Mit dem Aufstieg Shanghais und Shenzhens verliert Hongkong zusehends seinen Status als glänzende Wirtschaftsmetropole: Das Finanzzentrum ist abhängiger von China als umgekehrt, das Wachstum stagniert seit Jahren. Platzmangel, Niedrigzinsen und Aufkäufe aus dem Festland machen die Stadt heute zum weltweit teuersten Immobilienmarkt. Die Ungleichheit ist so groß wie seit vier Jahrzehnten nicht mehr: Die Hälfte der Bevölkerung lebt in Sozialbauten. Das befördert die Unzufriedenheit.
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China habe die Demütigung durch die Kolonialherrschaft nie vergessen, schleuderte Präsident Jiang Zemin dem britischen Thronfolger Charles bei der Übergabe entgegen. Habe Peking Hongkong lange als Versuchslabor für Reformen auf dem Festland gesehen, galt das Gebiet später als letztes Überbleibsel der nationalen Erniedrigung durch die Westmächte, erklärt Mareike Ohlberg vom Berliner Merics-Institut. „Die Partei sieht sich als Befreier des chinesischen Volkes.“Daher habe das Jubiläum hohe Symbolkraft.
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In Peking wächst die Sorge, die Unabhängigkeitsbewegung könne an Einfluss gewinnen – selbst, wenn die Loslösung Hongkongs für die KP-Führung ein undenkbares Szenario ist. Dass die sogenannten Lokalisten vor allem von jungen Hongkongern unterstützt werden, sei für die Zentralregierung besonders bitter, meint Ohlberg. Nur drei Prozent der Jugend fühlen sich als Chinesen – ein Rekordtief. Auch der Machtwechsel 2012 spielt bei der wachsenden Einflussnahme mit: Der harsche Führungsstil Xi Jinpings spiegelt sich im Umgang mit der Ex-Kolonie wider. Doch bei aller Opposition fährt auch die städtische ProChina-Fraktion ihre Geschütze auf. „Was ist besser?“, fragen sie: „Ein von der britischen Monarchie auferlegter Gouverneur oder ein Regierungschef, der durch ein mangelhaftes demokratisches System gewählt wurde?“