„Grenzenlose Pkw-Maut bis 2027“
Interview. Die Autobahnvignette ist überholt, sagt Verkehrskommissarin Violeta Bulc zur „Presse“. Die europaweite Digitalisierung der Mautsysteme sei nur mehr eine Frage der Zeit.
Die Presse: Die Kommission schlägt vor, die Mautpickerln für die Benutzung von Autobahnen und Schnellstraßen abzuschaffen und durch eine einheitliche elektronische kilometer- und schadstoffabhängige Maut zu ersetzen. Dagegen laufen vor allem in Österreich viele Politiker Sturm. Hätten Sie sich erwartet, dass Ihr Vorschlag die Gemüter derart erhitzt? Violeta Bulc: Ich hoffe, dass ein Großteil der harschen Reaktionen auf Missverständnisse darüber zurückzuführen sind, wie diese Richtlinie umgesetzt werden soll. Ich will versuchen, das aufzuklären. Ein bisschen Geschichte dazu: Das Vignettensystem gibt es, weil es seinerzeit der einfachste Weg war, Gebühren für die Straßennutzung einzuführen. Wäre die Digitalisierung damals schon so weit entwickelt gewesen wie heute, hätten wir vermutlich eine andere Lösung. Die Vignette hat ihren Zweck erfüllt – aber sie ist komplett inflexibel. Man kann keine zusätzlichen Funktionen draufladen, die auf bestimmte Gegenden oder Städte oder Straßenabschnitte abgestimmt sind. Wir begrüßen die finanzielle Unterstützung für Berufspendler, wie es sie in Österreich gibt. Die soll es auch in Zukunft geben. Aber mit der Vignette kann man nicht auf akute Verkehrsprobleme in bestimmten Gegenden reagieren.
Auf Vernunftebene gewinnen Sie damit: Weniger zahlen, wenn man weniger fährt und weniger Abgase erzeugt. Aber auf emotionaler Ebene verlieren Sie wohl trotzdem. In Österreich lässt man jährlich über die Farbe der Vignette abstimmen, Boulevardzeitungen verschenken sie als Zugabe zu ihren Abonnements. So ist das mit vielen wohldurchdachten Vorschlägen der Kommission. Wie kann man das ändern? Bei allem Respekt für diese Gefühle, die mir voll bewusst sind, würde ich argumentieren: Wir haben in Europa viele unserer Dienstleitungen in dieser schnelllebigen Welt zum Besseren verändert. Erinnern Sie sich zum Beispiel, wie das einst war, als es ausschließlich Festnetztelefone gab. Oder denken Sie an den Nutzen, den wir im Gesundheitswesen, in der Wissenschaft, in der Bildung durch Digitalisierung gewonnen haben. Unser Vorschlag wird es den Menschen ermöglichen, von Portugal nach Schweden zu reisen, ohne sich bei jedem Grenzübergang fragen zu müssen: Muss ich jetzt eine Karte oder einen Aufkleber kaufen oder an einer Mautstelle zahlen? Ich hoffe zudem, dass die Österreicher diese Digitalisierung im Straßenverkehr auch als neue Geschäftsmöglichkeit sehen.
In den USA ist das Mautwesen eine Zuständigkeit der Einzelstaaten. Aber wenn man mit dem Auto von New York nach Boston fährt, braucht man nur eine kleine elektronische Schachtel, den EZ-Pass, der reibungslos die jeweilige Maut von der Kreditkarte abbucht. Wie lang wird es dauern, bis wir in Europa auch so weit sind? Wir müssen sicherstellen, dass es einen einheitlichen technischen Standard gibt, auf Basis dessen viele Anbieter miteinander konkurrieren können. Wir haben uns die bestehenden Mautsysteme in Europa angeschaut, die jeweilige Vertragslänge und die kaufmänni- sche Abschreibung der Infrastruktur. Auf Grundlage dessen sind wir auf das Jahr 2027 gekommen. Für uns ist es wichtig, den Investoren rechtzeitig ein starkes Signal zu geben: Ihr habt Zeit, eure Mautanlagen abzuschreiben, aber wenn ihr in neue Technologie investiert, dann investiert bitte in zukunftsträchtige Lösungen.
Bei gutem politischen Willen der Regierungen könnten wir binnen zehn Jahren ein grenzenloses Pkw-Mautsystem haben? Ja. Bis 2027 hoffe ich, dass alle Mitgliedstaaten, die Mautsysteme nutzen – das tun ja nicht alle – , das in einer digitalen Form tun.
Manche Bürger haben Angst, dass sie vom Staat dauerhaft elektronisch überwacht werden können, wenn sie ständig eine digitale Mautbox im Auto mitführen. Wie geht man mit solchen Bedenken um? Das ist eine legitime Sorge. Wir wollen ja nicht vollkommen kontrolliert werden. Da geht es um Sicherheit, Big Data, Datenweitergabe, Privatsphäre. Um diese Fragen kümmern wir uns in der Kommission im Rahmen der Schaffung des digitalen Binnenmarkts. Allerdings möchte ich Ihren Lesern zu bedenken geben: Die deutsche Regierung hat vor ein paar Monaten erklärt, dass es bis 2030 fahrerlose Autos auf deutschen Straßen geben soll. Das wird ein komplett neues soziales Paradigma schaffen, vor allem für alte und behinderte Menschen, die dann wieder mobil werden und ihre Unabhängigkeit gewinnen. Das wird, denke ich, allgemein begrüßt. Und es geht Hand in Hand mit unseren Vorschlägen zur Digitalisierung des Verkehrs. Wir schaffen jetzt die Regeln für die nächsten zehn, 15, 20 Jahre. Das dauert. Aber am Ende wird es klappen.