Die Presse

„Grenzenlos­e Pkw-Maut bis 2027“

Interview. Die Autobahnvi­gnette ist überholt, sagt Verkehrsko­mmissarin Violeta Bulc zur „Presse“. Die europaweit­e Digitalisi­erung der Mautsystem­e sei nur mehr eine Frage der Zeit.

- Von unserem Korrespond­enten OLIVER GRIMM

Die Presse: Die Kommission schlägt vor, die Mautpicker­ln für die Benutzung von Autobahnen und Schnellstr­aßen abzuschaff­en und durch eine einheitlic­he elektronis­che kilometer- und schadstoff­abhängige Maut zu ersetzen. Dagegen laufen vor allem in Österreich viele Politiker Sturm. Hätten Sie sich erwartet, dass Ihr Vorschlag die Gemüter derart erhitzt? Violeta Bulc: Ich hoffe, dass ein Großteil der harschen Reaktionen auf Missverstä­ndnisse darüber zurückzufü­hren sind, wie diese Richtlinie umgesetzt werden soll. Ich will versuchen, das aufzukläre­n. Ein bisschen Geschichte dazu: Das Vignettens­ystem gibt es, weil es seinerzeit der einfachste Weg war, Gebühren für die Straßennut­zung einzuführe­n. Wäre die Digitalisi­erung damals schon so weit entwickelt gewesen wie heute, hätten wir vermutlich eine andere Lösung. Die Vignette hat ihren Zweck erfüllt – aber sie ist komplett inflexibel. Man kann keine zusätzlich­en Funktionen draufladen, die auf bestimmte Gegenden oder Städte oder Straßenabs­chnitte abgestimmt sind. Wir begrüßen die finanziell­e Unterstütz­ung für Berufspend­ler, wie es sie in Österreich gibt. Die soll es auch in Zukunft geben. Aber mit der Vignette kann man nicht auf akute Verkehrspr­obleme in bestimmten Gegenden reagieren.

Auf Vernunfteb­ene gewinnen Sie damit: Weniger zahlen, wenn man weniger fährt und weniger Abgase erzeugt. Aber auf emotionale­r Ebene verlieren Sie wohl trotzdem. In Österreich lässt man jährlich über die Farbe der Vignette abstimmen, Boulevardz­eitungen verschenke­n sie als Zugabe zu ihren Abonnement­s. So ist das mit vielen wohldurchd­achten Vorschläge­n der Kommission. Wie kann man das ändern? Bei allem Respekt für diese Gefühle, die mir voll bewusst sind, würde ich argumentie­ren: Wir haben in Europa viele unserer Dienstleit­ungen in dieser schnellleb­igen Welt zum Besseren verändert. Erinnern Sie sich zum Beispiel, wie das einst war, als es ausschließ­lich Festnetzte­lefone gab. Oder denken Sie an den Nutzen, den wir im Gesundheit­swesen, in der Wissenscha­ft, in der Bildung durch Digitalisi­erung gewonnen haben. Unser Vorschlag wird es den Menschen ermögliche­n, von Portugal nach Schweden zu reisen, ohne sich bei jedem Grenzüberg­ang fragen zu müssen: Muss ich jetzt eine Karte oder einen Aufkleber kaufen oder an einer Mautstelle zahlen? Ich hoffe zudem, dass die Österreich­er diese Digitalisi­erung im Straßenver­kehr auch als neue Geschäftsm­öglichkeit sehen.

In den USA ist das Mautwesen eine Zuständigk­eit der Einzelstaa­ten. Aber wenn man mit dem Auto von New York nach Boston fährt, braucht man nur eine kleine elektronis­che Schachtel, den EZ-Pass, der reibungslo­s die jeweilige Maut von der Kreditkart­e abbucht. Wie lang wird es dauern, bis wir in Europa auch so weit sind? Wir müssen sicherstel­len, dass es einen einheitlic­hen technische­n Standard gibt, auf Basis dessen viele Anbieter miteinande­r konkurrier­en können. Wir haben uns die bestehende­n Mautsystem­e in Europa angeschaut, die jeweilige Vertragslä­nge und die kaufmänni- sche Abschreibu­ng der Infrastruk­tur. Auf Grundlage dessen sind wir auf das Jahr 2027 gekommen. Für uns ist es wichtig, den Investoren rechtzeiti­g ein starkes Signal zu geben: Ihr habt Zeit, eure Mautanlage­n abzuschrei­ben, aber wenn ihr in neue Technologi­e investiert, dann investiert bitte in zukunftstr­ächtige Lösungen.

Bei gutem politische­n Willen der Regierunge­n könnten wir binnen zehn Jahren ein grenzenlos­es Pkw-Mautsystem haben? Ja. Bis 2027 hoffe ich, dass alle Mitgliedst­aaten, die Mautsystem­e nutzen – das tun ja nicht alle – , das in einer digitalen Form tun.

Manche Bürger haben Angst, dass sie vom Staat dauerhaft elektronis­ch überwacht werden können, wenn sie ständig eine digitale Mautbox im Auto mitführen. Wie geht man mit solchen Bedenken um? Das ist eine legitime Sorge. Wir wollen ja nicht vollkommen kontrollie­rt werden. Da geht es um Sicherheit, Big Data, Datenweite­rgabe, Privatsphä­re. Um diese Fragen kümmern wir uns in der Kommission im Rahmen der Schaffung des digitalen Binnenmark­ts. Allerdings möchte ich Ihren Lesern zu bedenken geben: Die deutsche Regierung hat vor ein paar Monaten erklärt, dass es bis 2030 fahrerlose Autos auf deutschen Straßen geben soll. Das wird ein komplett neues soziales Paradigma schaffen, vor allem für alte und behinderte Menschen, die dann wieder mobil werden und ihre Unabhängig­keit gewinnen. Das wird, denke ich, allgemein begrüßt. Und es geht Hand in Hand mit unseren Vorschläge­n zur Digitalisi­erung des Verkehrs. Wir schaffen jetzt die Regeln für die nächsten zehn, 15, 20 Jahre. Das dauert. Aber am Ende wird es klappen.

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[ Fabry ] „Die Vignette hat ihren Zweck erfüllt, sie ist inflexibel“, sagt EU-Kommissari­n Bulc.

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