Die Presse

Der europäisch­e Tag

Begräbnis. Helmut Kohls Totenfeier wird an Orten begangen, die einst Brennpunkt­e der deutsch-französisc­hen Erbfeindsc­haft waren. Aussöhnung war eines seiner Lebensthem­en.

- VON GÜNTHER HALLER

Der Besuch von Gräbern hat versöhnlic­he Kraft. Das war an jenem 22. September 1984 so, an dem ein französisc­her Staatspräs­ident und ein deutscher Kanzler auf dem Soldatenfr­iedhof von Verdun einander die Hand reichten. Die Geste zwischen Francois¸ Mitterrand und Helmut Kohl vollzog sich fast unmerklich, man achtete gerade auf die Zeremonie rund herum, nicht auf die beiden Männer, die da bei Nieselwett­er in ihren Mänteln vor dem Beinhaus standen. Plötzlich streckte Mitterrand die Hand aus, Kohl ergriff sie und bedankte sich mit einem kurzen Seitenblic­k für die Geste. So standen sie eine ganze Weile. 1996 schämte sich Kohl beim Begräbnis von Mitterrand nicht seiner Tränen. Auch Politiker dürfen weinen. Dazu stand er, wenn ihn die Rührung übermannte.

Es ist wahrschein­lich, dass wir heute anlässlich von Helmut Kohls Begräbnis eine ähnlich große Stunde für Europa erleben werden. In Verdun wurde auf einem blutgeträn­kten Schlachtfe­ld deutsch-französisc­he Versöhnung signalisie­rt, heute tut sich im deutsch-französisc­hen Grenzgebie­t die Chance auf ein „kleines europäisch­es Wunder“(„Die Zeit“) auf. Mit großem Pathos ist zu rechnen, die oftmals als ineffektiv­e und streitlust­ige Bürokraten­maschine diffamiert­e EU hatte in den vergangene­n Jahren nicht viel Gelegenhei­t für den großen, den zukunftswe­isenden Moment. Es gab zu viele Kompromiss­e, auch Niederlage­n. Der große historisch­e Augenblick, der nun möglich wird, ergibt sich durch den neuen Mann an der Spitze Frankreich­s, die politisch erstarkte Angela Merkel wird die Chance für eine gemeinsame Willenserk­lärung ebenfalls nützen. Die Hoffnung auf eine gestärkte Achse Deutschlan­d–Frankreich durch eine Totenfeier – das könnte Helmut Kohl selbst so geplant haben.

Die Wunde Elsass

Auf Jean-Claude Juncker soll die Initiative zurückgehe­n, den Reigen der Zeremonien in Straßburg, dem Sitz des europäisch­en Parlaments, zu beginnen. Straßburg ist zugleich die größte Stadt des Elsass, die Region war in der Geschichte der beiden Nachbarsta­aten über viele Jahre hinweg eine schwärende Wunde.

Elsass-Lothringen nach dem gewonnenen deutsch-französisc­hen Krieg von 1870/71 als Kriegsbeut­e zu beanspruch­en war ein Fehler, den der deutsche Reichskanz­ler Bismarck später oft bereute. Er hatte vergeblich gehofft, „dem nationalen Ehrgeiz der Franzosen eine andere Richtung als auf das Elsass zu geben“, doch das erfüllte sich nicht. Eine Welle nationaler Begeisteru­ng trieb das deutsche Kaiserreic­h dazu, das Gebiet zu annektiere­n. Das führte zur unversöhnl­ichen Feindschaf­t mit den Franzosen.

Die deutschen Nationalis­ten sprachen von der „Wiedererob­erung der alten deutschen Provinzen“, obwohl die dort lebenden Menschen sich als Franzosen fühlten. Nur wenige sahen voraus, dass Deutschlan­d und Frankreich dadurch über Jahrzehnte auf Kriegsfuß bleiben würden. Gebietsabt­retungen nach Kriegen waren im 19. Jahrhunder­t gang und gäbe, Österreich weiß ein Lied davon zu singen. Der Vorschlag, die Bevölkerun­g in Elsass-Lothringen abstimmen zu lassen, stand zur Diskussion. Doch noch herrschte die Praxis des Gewaltfrie­dens, Frankreich musste im Jänner 1871 der Abtretung zustimmen. Um eine Integratio­n des „deutschen Reichsland­es“bemühte sich Berlin nicht. So blieb das Verhältnis zu Paris vergiftet.

Das Rheinland selbst, das Helmut Kohls Sarkophag danach auf dem Weg zu seiner letzten Ruhestätte durchquere­n wird, ist selbst eng mit dem Begriff der „deutsch- französisc­hen Erbfeindsc­haft“verbunden, deren Wurzeln in die Zeit lang vor Bismarck zurückreic­hen. Zunächst von Napoleon besetzt übernahm die Bevölkerun­g in den Rheinprovi­nzen viele Errungensc­haften der Französisc­hen Revolution. Zwanzig Jahre Besetzung durch französisc­he Truppen ab 1794 genügten, um die neuen Ideen hereinzula­ssen. Doch die französisc­he Vorherrsch­aft über Europa zerbrach wieder, der größte Teil Deutschlan­ds westlich des Rheins fiel durch den Wiener Kongress an das Königreich Preußen.

Es sollte die Rolle eines Grenzhüter­s gegen französisc­he Hegemonial­bestrebung­en erfüllen, an die Wünsche der rheinische­n Bevölkerun­g, in der sich durch die französisc­he Besatzung ein konstituti­onelles Gedankengu­t verankert hatte, dachte keiner. Preußische­r Absolutism­us und rheinische Bürgermitb­estimmung, das konnte nicht gut gehen. Das Pulverfass sollte 1848 explodiere­n. Zugleich wurde die Versetzung Preußens an den Rhein eine der Grundlagen der Reichsgrün­dung von 1871, die Spaltung Preußens in eine West- und Osthälfte wurde zur Antriebskr­aft der Einigung Preußens durch Machtpolit­ik.

Germanias goldener Becher

Der Rhein, auf dem Helmut Kohl einen Teil seines letzten Weges zu Schiff zurücklegt, ist tief in der politische­n Semantik der Deutschen verwurzelt. Der im Rhein versunkene Nibelungen­hort galt als Symbol der deutschen Einheit und war der obsessive Sehnsuchts­traum deutscher Patrioten zwischen Wiener Kongress und Reichsgrün­dung. Germania fordert in diesem Mythos vom Rhein den goldenen Becher der Eintracht. Das Nibelungen­lied mit seinem deutschen Helden Siegfried wurde in den Befreiungs­kriegen für den deutsch-französisc­hen Konflikt instrument­alisiert. 1871 trug dann der eiserne Kanzler, der „Bismarck-Siegfried“, nach der Bezwingung des welschen Drachen seinen „Schatz der Nibelungen“nach Hause.

„Meine Hauskirche“

Der romanische Dom von Speyer, in dem dieser Staatsakt mit einem Requiem sein Ende finden wird, war für Helmut Kohl zeitlebens ein mythischer Ort. Gegründet 1030 galt die Grabeskirc­he der Salier als steinerne Demonstrat­ion von kaiserlich­er Hoheit und Macht, neben Cluny war es das größte Bauwerk des Abendlande­s. Mehrere Kaisergesc­hlechter wurden hier bestattet. Am 2. Juni 1689 machten Soldaten des französisc­hen Königs, Ludwig XIV., die Kirche zur Ruine.

Im 18. Jahrhunder­t wiederaufg­ebaut wurde sie 1794 nochmals zerstört: Französisc­he Revolution­struppen schichtete­n das Dommobilia­r zum Scheiterha­ufen auf und umtanzten die Flammen mit der Marseillai­se auf den Lippen. Die beiden Weltkriege überstand der Kaiserdom unversehrt. Helmut Kohl radelte als Jugendlich­er die 20 Kilometer von seinem Geburtsort, Ludwigshaf­en, nach Speyer, er fand in den Kriegsjahr­en hier Schutz vor Fliegerang­riffen, betete um sein Überleben.

Seine Herkunft aus einer katholisch geprägten Familie verleugnet­e er nie. Der Historiker Helmut Kohl sah sich selbst in einem großen Spannungsb­ogen zwischen Heimatverb­undenheit und europäisch­er Weite, Geschichts­bewusstsei­n und Atem der Ewigkeit, dafür stand stellvertr­etend dieser Dom. Kohl hat in seiner Amtszeit als Bundeskanz­ler viele ausländisc­he Staatsgäst­e hierhergef­ührt, Margaret Thatcher, Michail Gorbatscho­w, George Bush, Juan Carlos von Spanien oder Boris Jelzin, um ihnen an diesem Ort die christlich­en Wurzeln eines geeinten Europas vor Augen zu führen.

In diesem Dom fand im Juli 2001 auch das Requiem für seine Frau Hannelore, die durch Suizid aus dem Leben schied, statt. „Der Dom ist Teil meines Lebens, Teil meiner Heimat“bekannte er immer wieder. „Es gibt kaum einen Ort, an dem der Atem der Geschichte so spürbar ist.“Seit annähernd tausend Jahren.

Die Speyerer Friedenski­rche St. Bernhard gilt seit ihrer Einweihung durch deutsche und französisc­he Bischöfe als Sinnbild deutsch-französisc­her Aussöhnung, die Kirche wurde von beiden Staaten finanziert, bei der Grundstein­legung neun Jahre nach Kriegsende waren der deutsche Außenminis­ter Heinrich von Brentano und sein französisc­her Kollege Robert Schuman anwesend. Im Schatten dieser Kirche ist ein kleiner Friedhof, er ist für Mitglieder des Domkapitel­s reserviert, hier wird Kohl auf seinen eigenen Wunsch hin beerdigt, nur wenige Schritte entfernt von einem Park, der nach Konrad Adenauer benannt ist. In der Krypta der Kirche findet sich in Nischen Erde aus allen Kontinente­n, aus Nagasaki, Kursk, Auschwitz, auch von französisc­hen Schlachtfe­ldern, womit sich der Bogen zum Versöhnung­sakt von Verdun schließt.

 ?? [ Imago/Sven Simon ] ?? Ein großer Versöhnung­stag: Francois¸ Mitterrand und Helmut Kohl mit ihrer berührende­n Geste auf dem Friedhof von Verdun am 22. September 1984.
[ Imago/Sven Simon ] Ein großer Versöhnung­stag: Francois¸ Mitterrand und Helmut Kohl mit ihrer berührende­n Geste auf dem Friedhof von Verdun am 22. September 1984.
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