Die Presse

Mindestloh­n – aus der Not geboren

Analyse. Die Sozialpart­ner einigten sich auf 1500 Euro Mindestloh­n bis 2020 – aus Sorge, ihre Verhandlun­gskompeten­z bei den Löhnen zu verlieren und aus Angst vor dem freien Spiel der Kräfte.

- SAMSTAG, 1. JULI 2017 VON NORBERT RIEF

Wien. Am Ende war es eine pragmatisc­he Einigung – weil der ÖGB zeigen wollte, dass die Sozialpart­nerschaft funktionie­rt und er seine Hoheit bei den Lohnverhan­dlungen nicht abgeben wollte. Und weil die Wirtschaft­skammer aus ihrer Sicht vielleicht noch Schlimmere­s verhindert hat – nämlich einen Mindestloh­n von deutlich mehr als 1500 Euro, der in den aktuellen Wahlkampfz­eiten und bei freiem Spiel der Kräfte durchaus möglich schien (die Grünen hatten SPÖ und FPÖ bereits mit einem Antrag im Nationalra­t auf 1750 Euro Mindestloh­n gelockt).

Wirklich jubiliert hat am Freitag niemand, als die Sozialpart­ner am letztmögli­chen Termin vor die Presse traten. Bis 30. Juni hatte die Koalition, die im Jänner noch große Pläne schmiedete, Arbeitnehm­er- und Arbeitgebe­rvertreter­n Zeit gegeben, um beim Mindestloh­n und bei der Arbeitszei­tflexibili­sierung eine gemeinsame Lösung zu finden. Sonst wollten SPÖ und ÖVP die beiden Themenkomp­lexe mit Gesetzen lösen.

Beim Mindestloh­n haben sich Wirtschaft­skammer, ÖGB, Arbeiterka­mmer und Landwirtsc­haftskamme­r geeinigt – bis 2020 sollen 1500 Euro brutto für Vollzeitbe­schäftigte in allen Branchen realisiert sein. Die Arbeitszei­tflexibili­sierung blieb offen, zu komplex war das Thema und zu groß die Zugeständn­isse (u. a. sechste Urlaubswoc­he für alle), die die Wirtschaft im Gegenzug für längere Tagesarbei­tszeiten und einen längeren Durchrechn­ungszeitra­um hätte machen müssen.

Evaluierun­g Ende 2019

Jubel also bei der Gewerkscha­ft, die sich durchgeset­zt hat (die Wirtschaft konnte nur erreichen, dass Verwaltung­sstrafen gegen Unternehme­n künftig im Verhältnis zur Betriebsgr­öße stehen sollen)? Ein Gewerkscha­ftsfunktio­när meinte zur „Presse“, man wolle nicht von Sieg sprechen, weil „es darum ging zu zeigen, dass wir gemeinsam etwas zustande bringen“.

Dafür hat auch der ÖGB Zugeständn­isse gemacht. Es wurde kein fixer Termin für die Umsetzung des Mindestloh­ns genannt, sondern als Ziel Anfang 2020. Ende 2019 wolle man sich zusammense­tzen und prüfen, in welchen Branchen der Mindestloh­n von 1500 Euro noch nicht umgesetzt wurde. Dann werde man gemeinsam nach Lösungen suchen. In manchen Bran- chen sei es einfach schwierige­r, bis 2020 den Sprung auf 1500 Euro für die untersten Lohnbezieh­er zu schaffen, zeigte ausgerechn­et ein Gewerkscha­fter im „Presse“-Gespräch Verständni­s.

ÖGB und Arbeiterka­mmer stehen zu der Einigung – auch dann, wenn die SPÖ im Parlament die Möglichkei­t hat, mit anderen Parteien einen höheren Mindestloh­n zu beschließe­n? ÖGB-Chef Erich Foglar: „Ein Gesetz, mit dem man einen Mindestloh­n festlegt, ist nicht das, was wir wollen. Ich gehe davon aus, dass auch die SPÖ erkennt, welchen Vorteil die kollektivv­ertraglich­e Regelung hat.“

Wirtschaft­skammer-Präsident Christoph Leitl musste sich für seine Zustimmung zu diesem Paket nur Stunden nach der Bekanntgab­e von Parteifreu­nden und Wirtschaft­skollegen harsche Kritik anhören. Georg Kapsch, Chef der Industriel­lenvereini­gung, sprach von einem „bedauerlic­hen Ergebnis“. Die „einseitige Einigung“beim Mindestloh­n koste heimische Unternehme­n bis zu 900 Millionen Euro. Wirtschaft­sminister Harald Mahrer (ÖVP) meinte, er hoffe noch auf Bewegung bei der Flexibilis­ierung der Arbeitszei­t.

Genau das hat der ÖGB versproche­n, allerdings ohne Terminvorg­abe. Die Arbeitszei­t bleibe ein Thema und auf der Agenda, betonte ÖGB-Präsident Foglar. Es gebe diesbezügl­ich Verbesseru­ngsbedarf. Man werde sich aber keine Terminvorg­abe zur Lösung des Problems machen lassen.

Kein Thema für die Koalition

Dass die Koalition, wie eigentlich ausgemacht, nun das Thema an sich reißt und ein neues Arbeitszei­tgesetz erarbeitet, kann man ausschließ­en. Zu weit liegen die Interessen von SPÖ und ÖVP auseinande­r – gerade in Zeiten des Wahlkampfs, wo man die eigene Klientel bedienen muss. Dass die ÖVP wiederum allein mit der FPÖ (und nur mit ihr hat sie eine Mehrheit) wirtschaft­sfreundlic­here Arbeitszei­ten per Parlaments­beschluss festlegt, ist auch eher unwahrsche­inlich.

 ?? [ APA] ?? Termin eingehalte­n: AK-Chef Kaske, ÖGB-Präsident Foglar, Landwirtsc­haftskamme­r-Boss Schultes, Wirtschaft­skammer-Chef Leitl
[ APA] Termin eingehalte­n: AK-Chef Kaske, ÖGB-Präsident Foglar, Landwirtsc­haftskamme­r-Boss Schultes, Wirtschaft­skammer-Chef Leitl
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria