Übermenschliche Engel und groteske Körper
Germanistik. Kinder, deren Geschlecht bei ihrer Geburt nicht eindeutig zuzuordnen ist, haben oft einen langen Leidensweg vor sich. Forscherinnen der Uni Wien untersuchen, wie ihr Leben in der Literatur dargestellt wird.
Wer die Frage „Bub oder Mädchen“nicht beantworten kann, ist häufig zutiefst verunsichert. Verzichten Eltern auf vorschnelle Entscheidungen, weil sie ihr Kind später selbst entscheiden lassen wollen, bekommen sie oft nicht die notwendige Unterstützung, um ihrem Kind Sicherheit und Selbstwertgefühl zu vermitteln. Jahrelang rieten Ärzte zur schnellen und riskanten geschlechtsanpassenden Operation. Betroffene wurden unter Druck gesetzt, mussten sich entscheiden, obwohl die meisten medizinischen Eingriffe nicht rückgängig zu machen sind. Teilweise gilt das noch heute, obwohl internationale Menschenrechtsorganisationen diese Praxis verurteilen.
Seit den 1990er-Jahren beschäftigt sich die Belletristik verstärkt mit dem Schicksal dieser Menschen. Die Wiener Genderforscherinnen und Literaturwissenschaftlerinnen Angelika Baier und Susanne Hochreiter haben im vom Wissenschaftsfonds FWF finanzierten Forschungsprojekt „Diskursverhandlungen in Literatur über Hermaphroditismus“untersucht, wie literarische Texte den an zwei Geschlechtern orientierten medizinischen Diskurs aufgreifen und mit anderen künstlerischen und wissenschaftlichen Perspektiven verbinden.
Vom Opfer zum Täter
Erschienen sind autobiografische, fiktionale Texte, die Intergeschlechtlichkeit im Familienrahmen verorten, außerdem Kriminalromane und Romane, „die intergeschlechtliche Figuren als übermenschliche Engel darstellen“oder „mittels grotesker Körperdarstellungen thematisieren“, so Hochreiter. Autobiografien und Familienromane stellen in der Regel gesellschafts- und medizinkritische Aspekte in den Mittelpunkt. Kriminalromane behandeln die Frage, wie „intergeschlechtliche Opfer aufgrund ihrer Erfahrungen zu Tätern werden“, so Hochreiter.
In der Literatur werde die Notwendigkeit der Überschreitung von Geschlechtergrenzen thematisiert, weil die Verunsicherung der Betroffenen über ihre Identität deren Leben auch lang nach operativen Eingriffen bestimme. Das beschreibt beispielsweise Ulrike Draesner in ihrem 2012 erschienenen Roman „Mitgift“. Der Zwang, in einem veränderten Körper zu leben, dominiert das Leben der Er- wachsenen. Die vielfältigen Probleme, die daraus resultieren, beeinflussen die gesamte Familie auf dramatische Weise. Laut Hochreiter findet sich in den Texten eine „zunehmend differenzierte Gestaltung komplexer Charaktere, die nicht nur als Projektionsfläche be- nutzt werden“. Es stelle sich klar die Frage, „wie intergeschlechtliche Menschen heute leben“.
Als Fazit ihrer Analysen stellen Baier und Hochreiter fest, dass durch Literatur das „über viele Jahre tabuisierte Thema in der Öffentlichkeit sichtbar gemacht“und die „gewaltsame Dimension“der medizinischen Interventionen an intergeschlechtlichen Personen thematisiert werden konnte.
Blick durch die Linse der Kunst
Im Rahmen einer interdisziplinären Tagung ging es darum, den Blick verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen „durch die Linse eines Kunstwerkes“auf das Thema „Intergeschlechtlichkeit“zu richten. Der österreichische IntersexAktivist Alex Jürgen trug mit drei Kurzerzähltexten die Perspektive der Betroffenen bei. Seine Geschichte hat der Film „Tintenfischalarm“von Elisabeth Scharang aus dem Jahr 2006 erzählt, der in Österreich erstmals öffentliche Aufmerksamkeit für das Thema schuf, erzählt Hochreiter. (msb)