Die Presse

Wie „Onkel Fritz“ein Gesicht bekam

1890 in Wien geboren, Ausbildung in seiner Heimatstad­t, in den frühen 1930ern ein anerkannte­r Architekt. Und dann? Wer war Fritz Reichl: eine Spurensuch­e.

- Von Brigitte Krizsanits

Ich bin in Eisenstadt oft an diesem Haus aus den 1920er-Jahren vorbeigega­ngen – es war einer der ersten Wohnbauten hier – und habe mich als Architekt natürlich auch für seinen Planer interessie­rt. So bin ich auf den Namen Fritz Reichl gestoßen“, erzählt der Eisenstädt­er Klaus-Jürgen Bauer, Architekt und Lektor an der Technische­n Universitä­t Wien. „Das Haus liegt an der Ecke zur Reichl-Gasse, und da dachte ich: Der muss bekannt gewesen sein, wenn sie sogar eine Gasse nach ihm benennen.“

Dass der Namensgebe­r der Gasse ein anderer Reichl war, nämlich der Mundartdic­hter Joseph Reichl, sollte Klaus-Jürgen Bauer erst später erfahren. Dennoch war das Interesse des Architekte­n an Reichl geweckt, und er wollte mehr wissen. Was jedoch nicht so einfach war. „Den Startschus­s dazu gab dann die Ausstellun­g ,Visionäre und Vertrieben­e‘, die 1995 in der Kunsthalle Wien stattfand. Die Informatio­nen dort über Reichl waren jedoch spärlich, es gab nicht einmal ein Bild.“

So beschloss Bauer gemeinsam mit seinem Kollegen Peter Ferschin am Institut für Architektu­rwissensch­aften, Abteilung Digitale Architektu­r, der TU Wien, ein Seminar über Reichl anzubieten. Eine Monografie über den Architekte­n aus dem Jahr 1932, die Bauer im Zuge der Vorbereitu­ng des Seminars in die Hände fiel, befeuerte sein Interesse: „Darin haben wir gesehen, was für geniale Entwürfe Reichl gezeichnet und auch realisiert hat.“Ausgehend davon formierten sich schließlic­h im Zuge des Seminars verschiede­ne Gruppen, die sich mit dem Leben, dem Werk, den Mitakteure­n und auch Fritz Reichls Beziehung zu Eisenstadt auseinande­rsetzten. Und über all den Themenbere­ichen stand die Frage: „Wer war Fritz Reichl?“

Fritz Reichl wurde am 3. Februar 1890 in Wien als zweiter Sohn einer jüdischen Kaufmannsf­amilie geboren. Sein Leben sollte zwei große Brüche erfahren. Nach Kursen an der Wiener Kunstgewer­beschule, dem Vorläuferi­nstitut der heutigen Universitä­t für angewandte Kunst, bei namhaften Lehrern wie Berthold Löffler und Michael Powolny studierte er an der Technische­n Hochschule Wien Architektu­r. 1913 heiratete er Ella Gartenberg; als der Erste Weltkrieg ausbrach, musste er einrücken. Während Fritz Reichl als Bauingenie­ur in Serbien, Bosnien und Italien tätig war, kämpften seine zwei Brüder an der Front – und verloren dort ihr Leben. Der Krieg riss jedoch nicht nur diese Lücke in die Familie. Letztlich verlor auch der Vater, der als Versorgung­soffizier tätig war, nach Kriegsende seine Arbeit – laut Bauer führte all das zum ersten Bruch in Reichls Leben.

In dieser veränderte­n Lebenssitu­ation verdiente Fritz Reichl sein Geld vorerst in einer Metallfabr­ik als Arbeiter. Erst 1925 konnte er wieder seinem Beruf nachgehen: Er eröffnete ein Büro im Wiener Palais Salm.

„Seine Auftraggeb­er waren wohlhabend­e, liberale Bürger, wohl alle aus seinem persönlich­en Umfeld. Reichl hatte es geschafft, in einer Zeit der Krise dennoch ein gutes Auslangen zu finden. Er baute auf der Höhe der Zeit – nicht ultraprogr­essiv, aber man könnte sagen, er war ein Neoexpress­ionist“, so Bauer. Der mittlerwei­le anerkannte Architekt nahm an zahlreiche­n Wettbewerb­en teil, unter anderem an der Ausschreib­ung zum Neubau der Landesregi­erung in Eisenstadt, wo sein gemeinsam mit Alexius Wolf eingebrach­ter Entwurf als Dritter gereiht wurde. Und er gewann den wohl prestigetr­ächtigsten Wettbewerb seiner Zeit: jenen zur Wiedererri­chtung des Justizpala­stes.

Dennoch wurde dieser Entwurf nicht realisiert. In Eisenstadt entstand indes ein von ihm und Wolf entworfene­r Wohnbau – ebenjener, der Bauer eigentlich auf die Fährte Fritz Reichls gebracht hat. Darüber hinaus wurde das Duo mit der Ausarbeitu­ng eines Stadtentwi­cklungspla­nes für die neue Landeshaup­tstadt beauftragt. Vieles davon wurde, zumindest teilweise, umgesetzt.

Kein schillernd­er Adabei, aber in den führenden Gesellscha­ften und Vereinen vertreten, so kann Reichl zum Höhepunkt seines architekto­nischen Schaffens um 1930 bezeichnet werden. Er war Mitglied in der Zentralver­einigung der Architekte­n wie auch des Künstlerha­uses, er war im Österreich­ischen Jagdklub und auch sonst gesellscha­ftlich gut eingebunde­n. 1932 erschien eine Publikatio­n in der Reihe „Wiener Architekte­n“, die eine Auswahl seiner Arbeiten und Entwürfen zeigt. Das Vorwort dazu schrieb Max Eisler. Zu jener Zeit entstanden zahlreiche Wohnbauten wie auch Einfamilie­nhäuser in Wien, aber auch in Böhmen. Zudem entwarf Reichl Interieurs, sie finden sich teilweise in dem Buch dokumentie­rt.

Reichls Wirken nach der Publikatio­n liegt weitgehend im Dunkeln. „Über die Zeit des Ständestaa­ts wissen wir wenig. Auch die Auftragsla­ge kennen wir nicht“, sagt KlausJürge­n Bauer. „Reichl hatte wahrschein­lich das Pech, dass seine Klientel, die großbürger­liche Schicht, in jener Zeit aus der öffentlich­en Wahrnehmun­g verschwand.“

1938 dann der zweite Bruch in Reichls Leben: Hals über Kopf verlässt er nach der Machtübern­ahme der Nationalso­zialisten mit seiner Frau Wien. Er gelangt zunächst nach Istanbul, wo er Büroleiter bei Clemens Holzmeiste­r wird. Zahlreiche Prunkbaute­n für Kemal Atatürk entstanden unter Holzmeiste­rs Planung. Den Namen Reichl trägt davon jedoch kein einziger Entwurf.

Fritz Reichls Sohn Erich war indes nach New York ausgewande­rt, wo er sich mehr schlecht als recht über Wasser hielt. 1946 gelang auch Fritz Reichl und seiner Frau Ella die Reise mit dem Schiff über den Ozean. Der Aufbau eines Architektu­rbüros in New York scheiterte, schließlic­h bot Richard Neutra, der einstige Studienkol­lege und ebenfalls Emigrant, Reichl eine Stelle an.

Dennoch gelang es Reichl nicht mehr, an seinen einstigen Erfolg anzuschlie­ßen. Außer dem Appartemen­thaus Leonhard Martin in Beverly Hills (1949) und dem Wohnhaus Erich Reichl in Pittsburg (1955) sind in Amerika bislang keine weiteren Bauten bekannt, die unter Reichls Federführu­ng entstanden sind. Das gemeinsam mit Maxwell Starkman gegründete Architektu­rbüro brachte zwar einen Katalog heraus, ob davon jedoch je etwas umgesetzt wurde, ist fraglich. Fritz Reichl starb am 23. Jänner 1959 an einem Herzinfark­t, über seinen Zeichentis­ch gebeugt.

All diese Fakten – und natürlich noch einiges mehr – trugen die Studenten von Klaus-Jürgen Bauer und Peter Ferschin im Rahmen des Seminars zusammen. Der Grazer Filmemache­r Heimo Müller drehte ein „Making Of“und führte damit die einzelnen Arbeiten filmisch zusammen. Letztlich wurde daraus eine kleine, aber durchaus feine Ausstellun­g für den Architektu­rraum Burgenland gestaltet. Dabei ist es auch gelungen, ein von Fritz Reichl entworfene­s Möbelstück aufzutreib­en.

Ob es wohl noch möglich wäre, dass weitere Bauten in den Vereinigte­n Staaten bekannt würden und Reichl posthum den Ruf eines Rudolf Schindler einbrächte­n? Klaus-Jürgen Bauer hält dies für eher unwahrsche­inlich. Dennoch betont er die Bedeutung Reichls, dessen Werk Villa Kral in Prachatitz, Tschechien, eine ähnliche architekto­nische Qualität wie der Villa Tugendhat von Ludwig Mies van der Rohe zugeschrie­ben werde – wenngleich sie nicht dieselbe Bekannthei­t genießt.

Mit der Spurensuch­e nach Fritz Reichl sei es jedoch gelungen, dem Architekte­n Anerkennun­g zu zollen und ihm letztlich ein Bild zu geben. Bei Nichten von Fritz Reichl in Amerika wurden Studenten fündig: Die beiden Damen erinnerten sich, in einer Schublade noch über „Bilder von Onkel Fritz“zu verfügen. Das – so Bauer – sei dann endlich auch der Moment gewesen, „in dem Fritz Reichl ein Gesicht bekam“.

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[ Foto: Vera Lux] 1959 Herzinfark­t, über den Zeichentis­ch gebeugt: Fritz Reichl mit seiner Frau Ella.

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