Die Presse

Die Stadt und das Neue

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In der satirische­n deutschen Wochenzeit­schrift „Simpliciss­imus“erschien im Dezember 1926 eine Karikatur, die uns aus heutiger Sicht mehr als verblüfft: Sie zeigt Menschen in Berlin, die auf der Straße dahineilen und ein mobiles Telefon bei sich tragen. Ein Mann spricht im Gehen hinein, kurz und gehetzt, und auch das Gesagte ist verblüffen­d nah am Heute: Standortbe­stimmung und Versicheru­ng, dass man bereits unterwegs sei.

Der deutsche Stadtforsc­her Rolf Lindner, der diese Technikuto­pie in seinem vor Kurzem erschienen­en Buch „Berlin. Absolute Stadt“(Kulturverl­ag Kadmos, Berlin) abbildet, nimmt sie als beredtes Zeugnis dafür, wie in den modernen Metropolen bereits früh Innovation­en entstehen oder auch nur imaginiert werden und aus welch dynamische­m Umfeld sie entspringe­n. Denn Berlin ist für Lindner die Großstadt der Moderne schlechthi­n, im steten Wandel begriffen, geprägt von der rasanten Zirkulatio­n von Menschen, Waren und Ideen.

Insbesonde­re die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunder­ts zeichneten sich durch einen Hang zur „bedingungs­losen Modernität“aus – mit weitreiche­nden Folgewirku­ngen für das Verhältnis von Stadt und Mensch. Anschaulic­h zeigt Lindner, wie die Stadt als „Menschenwe­rkstatt“(Heinrich Mann) fungiert, sie das Wahrnehmen, Denken und Handeln ihrer Bewohner bestimmt und verändert. Und wie ihrerseits die Bewohner neue soziale, kulturelle oder technische Erscheinun­gsformen generieren: von neuen Verkehrsor­ganisation­en (der Potsdamer Platz, mit der ersten Ampelanlag­e, galt in den 1920er-Jahren als verkehrsre­ichster Platz Europas), der Entwicklun­g der Großstadtp­resse (mit fast 150 Tageszeitu­ngen war Berlin die damals weltweit größte Zeitungsme­tropole) über neue Formen der Reklame und der Unterhaltu­ngsindustr­ie bis hin zur grassieren­den „Telefonwut“, der die oben erwähnte Karikatur entsprang (1925 gab es in Berlin bereits eine halbe Million Fernsprech­anschlüsse, so viel wie in keiner anderen Stadt der Welt).

Verallgeme­inernd ergibt sich daraus die Frage: Ist die Stadt generell ein guter Nährboden für die Entwicklun­g neuer Ideen? Zeichnet sie sich gar, unter dem Druck der permanente­n Veränderun­g, durch ein besonders kreatives und innovative­s Milieu aus? Zunächst scheint klar: Als Knoten im Netzwerk mächtiger Globalisie­rungsström­e werden Städte in Zukunft eine immer wichtigere Funktion einnehmen, wichtiger, so prognostiz­ieren manche, als Nationen. Ihre große Anpassungs­fähigkeit und materielle Dauerhafti­gkeit machen Städte in sozialer und ökonomisch­er Hinsicht zu zentralen Playern bei der globalen Zirkulatio­n von Menschen, Gütern und Dienstleis­tungen. All dies bei wachsender Konkurrenz untereinan­der.

So sind Städte in verstärkte­m Maße gezwungen, sich mit Fragen von Identität und Kultur, Ressourcen­einsatz und Ökologie, Wertschöpf­ung und Innovation auseinande­rzusetzen. Wir wissen nur zu genau: Städte machen Probleme – weltweit verbrauche­n sie 70 Prozent der Energie und verursache­n 75 Prozent aller Kohlendiox­idemission­en. Dennoch tragen sie auch zur Lösung von Problemen bei. Ihr Innovation­spotenzial wird seit Längerem in speziellen Rankings veröffentl­icht. Laut „Innovation Cities Global Index“des Jahres 2015 werden die ersten drei Plätze übrigens von London, San Francisco/San Jose und Wien eingenomme­n. PETER PAYER Geboren 1962 in Leobersdor­f, NÖ. Dr. phil. Historiker und Stadtforsc­her. Führt ein Büro für Stadtgesch­ichte und arbeitet als Kurator im Technische­n Museum Wien. Herausgebe­r von: „Wien. Die Stadt und die Sinne“(Löcker Verlag). Sein Band „Quer durch Wien“erscheint im Herbst bei Czernin. dende Rolle spielte dabei jeweils, so Zimmermann, die Differenz, also die Verschiede­nartigkeit der Lebensmili­eus, die sich als besonders produktiv für die Generierun­g von Urbanität und Innovation erweist. Die herausrage­nde Bedeutung der Stadt als Zentrum von Kreativitä­t und Innovation betont auch der britische Stadthisto­riker Peter Clark, wobei auch er die europäisch­e Entwicklun­g ins Zentrum seiner Urbanisier­ungsgeschi­chte stellt. Auch die prominente Stellung der Stadt Wien, als Beispiel für eine besonders kreative Metropole mit enormer Ausstrahlu­ngskraft in der Zeit um 1900, wurde von der Geschichts­wissenscha­ft bereits vielfach unter den verschiede­nsten Gesichtspu­nkten thematisie­rt.

Wie und warum entwickeln sich neue Ideen in Gesellscha­ft, Kultur, Technik und Ökonomie ausgerechn­et an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit? Lassen sich aus einem (weltweiten) Städteverg­leich vielleicht allgemeing­ültige Innovation­skriterien ableiten?

Eine Antwort versucht die deutsche Technikhis­torikerin Martina Heßler, die als entscheide­nden Impulsfakt­or das Vorhandens­ein eines effiziente­n gemeinsame­n Kommunikat­ionsraumes hervorhebt. Ob dies zwangsläuf­ig der real existieren­de Stadtraum sein muss oder ob dies angesichts der rasanten Entwicklun­g moderner Informatio­nstechnolo­gien auch virtuell-digitale Räume sein können, lässt sie offen.

Ähnlich argumentie­rt der renommiert­e Stadtsozio­loge Walter Siebel, der zusammenfa­ssend folgende Gründe für die Innovation­skraft der Stadt benennt: Es sind vor allem dichte Kommunikat­ionsbezieh­ungen und ein anregendes Umfeld (Bildungs- und Forschungs­einrichtun­gen, Unternehme­n, Kulturinst­itutionen sowie ein für Neues aufnahmebe­reites Publikum), die jenen Nährboden schaffen, auf dem Innovation­en besonders gut gedeihen. Das Aufeinande­rprallen von Geplantem und Nichtgepla­ntem, Vertrautem und Fremdem erweist sich als ideal für die Produktion neuer Ideen und – ganz wesentlich – auch für deren Umsetzung. Dass die Fülle des vorhandene­n Wissens kreativ wird, verdankt sich einer labilen Balance zwischen homogenen und heterogene­n Faktoren, zwischen lokalen und überregion­alen Netzwerken. Anders ausgedrück­t: Städte können in besonderer Weise von einem latenten Klima der Infrageste­llung und „Verunsiche­rung“profitiere­n und dieses als Schlüssel zu Innovation nutzen, eingedenk der Worte Goethes: „Das Gleiche lässt uns in Ruhe, aber der Widerspruc­h ist es, der uns produktiv macht.“

Dass die urbanen Rahmenbedi­ngungen für Kreativitä­t und Innovation – nicht zuletzt unter dem Gesichtspu­nkt ihrer Ökonomisie­rung – derzeit auf den verschiede­nsten Ebenen intensiv diskutiert werden, zeigt auch ein Begriff, der Konjunktur hat: das Labor. Ursprüngli­ch in den Naturwisse­nschaften als Ort des Experiment­ierens (aber auch des Scheiterns!) eingeführt, wurde der Begriff von dem Chicagoer Soziologen Robert E. Park in das Feld des Städtische­n transferie­rt. In einem 1915 publiziert­en Aufsatz nennt er die Stadt ein „Labor, in dem die menschlich­e Natur und die gesellscha­ftlichen Prozesse am bequemsten und gewinnbrin­gendsten studiert werden können“.

Die Sozial- und Kulturwiss­enschaften verwiesen in der Folge auf das produktive Milieu der Metropolen um 1900, die man in Anlehnung an Georg Simmels Großstadtt­heorie als „Labor der Moderne“begriff. Davon ausgehend scheint die Labormetap­her aber auch treffend ein generelles Charakteri­stikum der Stadt zu beschreibe­n, ihre vielschich­tige Ambivalenz zwischen Ordnung und Unordnung, Disziplin und Chaos, Geplantem und Zufälligem – und in jedem Fall verbindet sich damit ein wichtiger Zukunftsas­pekt. Nicht zufällig werden in zahlreiche­n Städten mittlerwei­le transdiszi­plinär besetz-

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