Entschlackungskur für die europäische Gesetzgebung
REFIT. Die EU-Kommission versucht systematisch, Gesetzesinitiativen auf ihren Nutzen und bürokratischen Aufwand zu prüfen. Mit der Materie betraut ist Vizepräsident Frans Timmermans – der auch ein Vetorecht hat.
Dass das Recht in regelmäßigen Abständen gesäubert werden muss, liegt in der Natur der Sache – schließlich müssen die Gesetzestexte an den Fortschritt angepasst werden. Außerdem unterliegen auch die gesellschaftlichen Vorstellungen davon, was in welchem Umfang geregelt werden muss, dem Wandel der Zeit.
Im Fall der EU-Gesetzgebung kommt hinzu, dass das Gros der Verordnungen und Richtlinien Aspekte des Binnenmarkts betrifft und somit ohnehin sehr ins Detail geht. Um zu verhindern, dass in Brüssel zu viele detaillierte Vorschriften produziert werden, hat sich die EU-Kommission unter JeanClaude Juncker eine Schlankheitskur namens REFIT verordnet. Die Aufsicht über den Entschlackungsprozess hat Junckers Stellvertreter Frans Timmermans, der als Erster Vizepräsident der Kommission die Agenda „Better Regulation“betreut und das Pouvoir hat, Gesetzesinitiativen aus dem Gremium der Kommissare auf ihren bürokratischen Aufwand hin zu begutachten und gegebenenfalls abzuschmettern. In einem ersten symbolträchtigen Schritt nach ihrer Amtsübernahme im Herbst 2014 zogen Juncker und Timmermans eine Reihe von Ge- setzesinitiativen der Brüsseler Behörde zurück, die seit Jahren im demokratiepolitischen Niemandsland zwischen Kommission, Europaparlament und Rat festgesteckt ist und wenig bis keine Chancen auf Ratifizierung hatte. Nachjustiert wurde unter anderem auch bei der Ökodesignrichtlinie, deren Aktionsradius eingeschränkt wurde. Konkret nahm Timmermans Föhne und Toaster aus der Pflicht zu konstanten Energieeinsparungen. Wobei in diesem Zusammenhang gemunkelt wurde, dass der Rückzieher nicht so sehr der Kosten-Nutzen-Abwägung als der Sorge geschuldet war, dass Populisten den Brüsseler Eingriff in den Alltag der EU-Bürger als politische Waffe gegen die EU einsetzen könnten.
Analyse der Auswirkungen
Wie funktioniert REFIT konkret? Das Programm zur Gewährleistung der Effizienz und Leistungsfähigkeit der Rechtsetzung (dafür steht die Abkürzung) ist integraler Bestandteil des jährlichen Arbeitsprogramms der Brüsseler Behörde. Vereinfacht ausgedrückt geht es darum, die Auswirkungen eines Gesetzesvorschlags noch vor der Einleitung des Gesetzgebungsprozesses abzu- schätzen, um beurteilen zu können, ob der Zweck der Initiative die (bürokratischen) Mittel heiligt – denn schließlich soll REFIT vor allem den Klein- und Mittelbetrieben zugutekommen, deren Verwaltungskapazitäten beschränkt sind.
Dieser vorgelagerte Begutachtungsprozess findet nicht unter Ausschluss der Betroffenen statt – im Rahmen der Konsultation werden auch die Meinungen von Interessenvertretern einbezogen. Zugleich werden bereits bestehende Gesetze ebenfalls einer nachträglichen Evaluation unterzogen – und dann gegebenenfalls entschärft wie die bereits erwähnte Ökodesignrichtlinie.
Die EU-Kommission verweist darauf, dass REFIT in den vergangenen zwei Jahren zu messbaren Erfolgen geführt hat. So wurden in der Zwischenzeit 90 hinfällige Gesetzesvorschläge zurückgezogen. Bei der Chemikalienverordnung REACH konnte der finanzielle Registrierungsaufwand für den Mittelstand um mehr als 90 Prozent verringert werden. Durch die Einführung von digitalen Fahrtenschreibern und elektronischer Vergabeverfahren sind demnach die Hürden für KMU deutlich gesenkt worden – die Kommission beziffert die jährliche Erspar- nis, die europäischen Klein- und Kleinstbetrieben durch REFIT zugutekommen, mit gut sechs Milliarden Euro.
Pate der Entbürokratisierung
Zu den Paten der Entbürokratisierung Europas gehört übrigens Edmund Stoiber. Bayerns ehemaliger Ministerpräsident und Altvorsitzender der CSU wurde im Jahr 2007 vom damaligen Kommissionschef, Jose´ Manuel Barroso, mit der Leitung einer Arbeitsgruppe zur Entschlackung der EU-Gesetzgebung beauftragt (siehe Interview Seite VIII). Diese „Hochrangige Gruppe unabhängiger Interessenträger im Bereich Verwaltungslasten“, ein 15-köpfiges Expertengremium, durchforstete im Zeitraum 2007 bis 2014 insgesamt 72 EU-Rechtsakte und machte Hunderte Vorschläge zur Vereinfachung. Aus sämtlichen Empfehlungen ergab sich ein Abbaupotenzial in Bezug auf die Verwaltungslasten von schätzungsweise 41 Mrd. Euro pro Jahr. Ein Vorschlag von Stoiber und Co., der bis dato nicht umgesetzt wurde: die Einrichtung einer unabhängigen Stelle, deren Aufgabe es sein sollte, die Folgenabschätzung der Kommission ihrerseits unter die Lupe zu nehmen.