Freiheit, Frauen, Fußball: Wenn Richter Recht schaffen
EU-Gerichtshof. Immer wieder setzten die Richter in Luxemburg neue Maßstäbe. Und entwickelten durch ihre Urteile das europäische Recht weiter. Zu Zeitpunkten, als die Politik sich das noch nicht traute.
Wien. Schon in Österreich schiebt die Politik immer wieder wichtige Entscheidungen auf die Gerichte ab, weil man sich in der Koalition nicht auf klare Gesetzesbestimmungen einigen konnte. Auf europäischer Ebene ist das Problem sogar noch stärker, müssen dort doch gleich 28 Staaten einen Kompromiss suchen.
„Es ist mit einkalkuliert, dass der Gerichtshof die Begriffe auslegen muss. Ich habe das selbst erlebt. Es ist im Gesetzgebungsprozess oft nicht anders möglich“, konstatierte etwa einmal Maria Berger im Gespräch mit der „Presse“. Sie muss es wissen, war sie doch als EU-Abgeordnete und als österreichische Justizministerin in den Gesetzwerdungsprozess eingebunden, während sie nun als Österreichs Vertreterin am Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) Recht spricht.
Und tatsächlich hat der in Luxemburg ansässige EuGH im Laufe der Jahrzehnte in mehreren Urteilen das europäische Recht immer wieder weiterentwickelt. Und Grundsätze entwickelt, die sich die Politik zu dem Zeitpunkt (noch) nicht aufzustellen traute. Ein paar wichtige Beispiele:
IAls Betroffener kann man sich unmittelbar auf das europäische Recht berufen. Das stellte der EuGH 1963 in seinem Urteil zu einem Steuerstreit rund um die niederländische Spedition Van Gend & Loos fest. „Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft stellt eine neue Rechtsordnung des Völkerrechts dar, zu deren Gunsten die Staaten, wenn auch in begrenztem Rahmen, ihre Souveränitätsrechte eingeschränkt haben“, sprach der EuGH damals.
INur ein Jahr später machte der EuGH im Fall Costa klar, dass das Gemeinschaftsrecht sogar Vorrang gegenüber innerstaatlichem Recht genießt. Hintergrund war, dass alle in Italien ansässigen Elektrizitätsunternehmen verstaatlicht werden sollten. Flaminio Costa, Aktionär des Stromversorgers Enel, aber hielt das für rechtswidrig und schlug den Weg zu Gericht ein.
I1991 ging der EuGH noch einen Schritt weiter: Im Fall Francovich judizierte er, dass EU-Bürger von einem Staat, der gegen Gemeinschaftsrecht verstößt, Schadenersatz fordern können. Es ging um einen Arbeitnehmer, der Schaden durch die Zah- lungsunfähigkeit seines Arbeitgebers erlitt, weil Italien eine Richtlinie zu einem Ausfallsfonds nicht umgesetzt hatte.
IEiner der bekanntesten EuGH-Fälle ist jener des belgischen Fußballers Jean-Marc Bosman. Er sah sich in seinem Recht auf Arbeitnehmerfreizügigkeit beschränkt, weil sein Verein eine zu hohe Ablösesumme für ihn verlangte. Die Luxemburger Richter entschieden 1995, dass auch Berufssportler Arbeitnehmer mit Recht auf Freizügigkeit seien.
IAls ein britischer Tourist in Paris bei einem Überfall schwer verletzt wurde, stellte sich die Frage, ob er dieselben Ansprüche auf Entschädigungszahlungen habe wie ein Inländer. Ja, betonte der EuGH im Urteil zum Fall Cowan 1989. Das Gemeinschaftsrecht verbiete es, Leute wegen ihrer Staatsangehörigkeit schlechterzustellen.
IZu klären galt auch die Frage, wie man mit grenzübergreifender Krankenbehandlung umgeht. So entschied der EuGH 1998, dass man Versicherten auch dann Zahnbehandlungskosten erstatten muss, wenn der Eingriff in einem anderen EU-Land vorgenommen wird (Fall Kohl). Ähnliche Urteile ergingen zum Kauf von Brillen (Fall Decker) sowie zu einem Krankenhausaufenthalt in einem anderen Staat (Urteil Smits und Peerbooms).
IAuch der Grundsatz gleicher Lohn für gleiche Arbeit wurde vom EuGH schon 1976 mit Leben erfüllt. Er gab einer Stewardess Recht, die klagte, weil ihr Arbeitgeber Männern mehr für dieselbe Tätigkeit zahlte (Urteil Defrenne). Und der EuGH ebnete auch den Weg von Frauen zu einer Karriere beim deutschen Heer. Der EuGH urteilte im Jahr 2000, dass Deutschland die Gleichbehandlungsrichtlinie auch hier anwenden muss. Der deutschen Elektronikerin Tanja Kreil war zuvor eine Anstellung bei der Bundeswehr als Waffenelektronikerin verweigert worden.
IEin für viele wichtiges Thema ist jenes der Fluggastrechte bei Ausfall oder Verspätung. Auch hier traf der EuGH immer wieder Klarstellungen. So müsse auch bei technischen Problemen ein Flugunternehmen grundsätzlich den Passagier entschädigen, urteilte der EuGH im Fall Wallentin-Hermann 2008.