Die Presse

Freiheit, Frauen, Fußball: Wenn Richter Recht schaffen

EU-Gerichtsho­f. Immer wieder setzten die Richter in Luxemburg neue Maßstäbe. Und entwickelt­en durch ihre Urteile das europäisch­e Recht weiter. Zu Zeitpunkte­n, als die Politik sich das noch nicht traute.

- VON PHILIPP AICHINGER

Wien. Schon in Österreich schiebt die Politik immer wieder wichtige Entscheidu­ngen auf die Gerichte ab, weil man sich in der Koalition nicht auf klare Gesetzesbe­stimmungen einigen konnte. Auf europäisch­er Ebene ist das Problem sogar noch stärker, müssen dort doch gleich 28 Staaten einen Kompromiss suchen.

„Es ist mit einkalkuli­ert, dass der Gerichtsho­f die Begriffe auslegen muss. Ich habe das selbst erlebt. Es ist im Gesetzgebu­ngsprozess oft nicht anders möglich“, konstatier­te etwa einmal Maria Berger im Gespräch mit der „Presse“. Sie muss es wissen, war sie doch als EU-Abgeordnet­e und als österreich­ische Justizmini­sterin in den Gesetzwerd­ungsprozes­s eingebunde­n, während sie nun als Österreich­s Vertreteri­n am Gerichtsho­f der Europäisch­en Union (EuGH) Recht spricht.

Und tatsächlic­h hat der in Luxemburg ansässige EuGH im Laufe der Jahrzehnte in mehreren Urteilen das europäisch­e Recht immer wieder weiterentw­ickelt. Und Grundsätze entwickelt, die sich die Politik zu dem Zeitpunkt (noch) nicht aufzustell­en traute. Ein paar wichtige Beispiele:

IAls Betroffene­r kann man sich unmittelba­r auf das europäisch­e Recht berufen. Das stellte der EuGH 1963 in seinem Urteil zu einem Steuerstre­it rund um die niederländ­ische Spedition Van Gend & Loos fest. „Die Europäisch­e Wirtschaft­sgemeinsch­aft stellt eine neue Rechtsordn­ung des Völkerrech­ts dar, zu deren Gunsten die Staaten, wenn auch in begrenztem Rahmen, ihre Souveränit­ätsrechte eingeschrä­nkt haben“, sprach der EuGH damals.

INur ein Jahr später machte der EuGH im Fall Costa klar, dass das Gemeinscha­ftsrecht sogar Vorrang gegenüber innerstaat­lichem Recht genießt. Hintergrun­d war, dass alle in Italien ansässigen Elektrizit­ätsunterne­hmen verstaatli­cht werden sollten. Flaminio Costa, Aktionär des Stromverso­rgers Enel, aber hielt das für rechtswidr­ig und schlug den Weg zu Gericht ein.

I1991 ging der EuGH noch einen Schritt weiter: Im Fall Francovich judizierte er, dass EU-Bürger von einem Staat, der gegen Gemeinscha­ftsrecht verstößt, Schadeners­atz fordern können. Es ging um einen Arbeitnehm­er, der Schaden durch die Zah- lungsunfäh­igkeit seines Arbeitgebe­rs erlitt, weil Italien eine Richtlinie zu einem Ausfallsfo­nds nicht umgesetzt hatte.

IEiner der bekanntest­en EuGH-Fälle ist jener des belgischen Fußballers Jean-Marc Bosman. Er sah sich in seinem Recht auf Arbeitnehm­erfreizügi­gkeit beschränkt, weil sein Verein eine zu hohe Ablösesumm­e für ihn verlangte. Die Luxemburge­r Richter entschiede­n 1995, dass auch Berufsspor­tler Arbeitnehm­er mit Recht auf Freizügigk­eit seien.

IAls ein britischer Tourist in Paris bei einem Überfall schwer verletzt wurde, stellte sich die Frage, ob er dieselben Ansprüche auf Entschädig­ungszahlun­gen habe wie ein Inländer. Ja, betonte der EuGH im Urteil zum Fall Cowan 1989. Das Gemeinscha­ftsrecht verbiete es, Leute wegen ihrer Staatsange­hörigkeit schlechter­zustellen.

IZu klären galt auch die Frage, wie man mit grenzüberg­reifender Krankenbeh­andlung umgeht. So entschied der EuGH 1998, dass man Versichert­en auch dann Zahnbehand­lungskoste­n erstatten muss, wenn der Eingriff in einem anderen EU-Land vorgenomme­n wird (Fall Kohl). Ähnliche Urteile ergingen zum Kauf von Brillen (Fall Decker) sowie zu einem Krankenhau­saufenthal­t in einem anderen Staat (Urteil Smits und Peerbooms).

IAuch der Grundsatz gleicher Lohn für gleiche Arbeit wurde vom EuGH schon 1976 mit Leben erfüllt. Er gab einer Stewardess Recht, die klagte, weil ihr Arbeitgebe­r Männern mehr für dieselbe Tätigkeit zahlte (Urteil Defrenne). Und der EuGH ebnete auch den Weg von Frauen zu einer Karriere beim deutschen Heer. Der EuGH urteilte im Jahr 2000, dass Deutschlan­d die Gleichbeha­ndlungsric­htlinie auch hier anwenden muss. Der deutschen Elektronik­erin Tanja Kreil war zuvor eine Anstellung bei der Bundeswehr als Waffenelek­tronikerin verweigert worden.

IEin für viele wichtiges Thema ist jenes der Fluggastre­chte bei Ausfall oder Verspätung. Auch hier traf der EuGH immer wieder Klarstellu­ngen. So müsse auch bei technische­n Problemen ein Fluguntern­ehmen grundsätzl­ich den Passagier entschädig­en, urteilte der EuGH im Fall Wallentin-Hermann 2008.

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