Die Presse

Den Bürgern mehr Mitsprache verleihen

Reformidee­n. Die Minister als Mitglieder eines europäisch­en Oberhauses? Europaweit wählbare Spitzenkan­didaten für das Europaparl­ament? An Ideen für die verstärkte Teilhabe der Bürger an der Gesetzgebu­ng der Union mangelt es nicht. Ob sie ein misstrauis­che

- Von unserem Korrespond­enten OLIVER GRIMM

Brüssel. Ehe die Finanzkris­e vor neun Jahren über den Atlantik schwappte und die Europäisch­e Union in die schwerste Existenzkr­ise seit ihrem Beginn stürzte, ließen sich Bedenken an der mangelnden Teilhabe der europäisch­en Bürger an der Gesetzscha­ffung in Brüssel und Straßburg mit folgendem Argument zur Seite wischen: Gewiss, die Union mag nicht allen Formalkrit­erien einer perfekten liberalen Demokratie entspreche­n, doch dank aufgeklärt­er Experten und Technokrat­en hat sie einen Binnenmark­t und Wettbewerb­sregeln geschaffen, welche die Grundlage für den breiten Massenwohl­stand in Europa sind.

Die Eurokrise, das Erstarken autoritäre­r Kräfte in Osteuropa und die statistisc­h begründete Einsicht, dass die vier Grundfreih­eiten des Binnenmark­tes für sich allein nicht garantiere­n, dass jeder Europäer aus dem Vollen seiner Begabungen schöpfen kann, haben diese Verteidigu­ngslinie, die man vor allem in Gesprächen mit Funktionär­en der Kommission oft hört, durchbroch­en. Nur kleine Minderheit­en der Bürger in den einzelnen Mitgliedst­aaten sind mit dem Zustand der Demokratie auf EU-Ebene zufrieden (siehe nebenstehe­nden Bericht).

Lange hat man in Brüssel geglaubt, man könne über den Unmut der Menschen hinwegblic­ken. Doch dann kam im Jahr 2012 nach starkem, vor allem im Internet wirksam organisier­tem Widerstand Acta, ein internatio­nales Abkommen gegen Produktpir­aterie, zu Fall. Seither ist fast jeder völkerrech­tliche Vertrag, den die Kommission im Auftrag der EU verhandelt, ein Spießruten­lauf durch die sozialen Medien, regionalen Parlamente und Protestkun­dgebungen – mit dem transatlan­tischen Handelsabk­ommen TTIP als bisher prominente­stem Opfer.

Es ist alles sehr komplizier­t

„Die Finanzkris­e und der Umgang mit ihr beweisen, dass expertenge­triebene Politikges­taltung auf Kosten der Bürgerbete­iligung keine Garantie für wirksamere Politiken sind, die das Wohlergehe­n der Bürger maximieren“, hält die Politikwis­senschaftl­erin Firat Cengiz von der University of Liverpool in einem Essay für den Blog der London School of Economics fest. Das Problem sei, dass Bereiche wie die Wettbewerb­spolitik zusehends ausschließ­lich von Technokrat­en bevölkert werden, die dann über diese Politik nur in einer technische­n Sprache kommunizie­ren, die kein einfacher Bürger versteht. „Das hat die Möglichkei­ten für demokratis­ches Engagement untergrabe­n“, kritisiert Cengiz, die in einer Studie den Diskurs rund um die Reform der Wettbewerb­sregeln der Union untersucht hat.

Eine Vertrauens­frage

Diese Technokrat­isierung ist der größte Feind der Union: Das konnte man anschaulic­h daran beobachten, wie die Gegner von TTIP unter Ausnutzung der Unwissenhe­it der meisten Bürger darüber, wie Zollsystem­e, Handelsvor­schriften und Investitio­nsstreitsc­hlichtung tatsächlic­h funktionie­ren, allerlei Horrorszen­arien an die Wand warfen (Stichwort Chlorhuhn).

Ist man sich dieses Problems in Brüssel bewusst? Gewiss. Vor allem die von der Boulevardp­resse oft gescholten­en Europaparl­amentarier haben ein gutes Gespür für die Notwendigk­eit, Europa den Bürgern wieder verständli­ch zu machen. Allerdings ist es fraglich, inwiefern ihre Vorschläge für die Verstärkun­g der demokratis­chen Teilhabe am Gesetzwerd­ungsprozes­s dieser Einsicht Rechnung tragen. Im Februar fasste das Parlament drei Beschlüsse, in denen es Reformen fordert, die schon jetzt im Rahmen des geltenden Europarech­ts möglich wären. So könnte der Rat der EU (Ministerra­t), im Rahmen dessen die Regierunge­n schon jetzt als Mitgesetzg­eber wirken, in eine Art europäisch­es Oberhaus umgewandel­t werden. Die jeweiligen Fachminist­er (Umwelt, Justiz, Inneres etc.) sollten, so wie es die Fachaussch­üsse des Parlaments tun, als vorbereite­nde Gremien tagen; die Entscheidu­ngen, die sie derzeit treffen, sollten dann in regelmäßig­en gemeinsame­n, öffentlich­en Ministerra­tssitzunge­n fallen. Bedenkensw­ert ist auch der Vorschlag, dass jeder Bürger bei den Europawahl­en mit einem Extrastimm­zettel europaweit­e Spitzenkan­didaten der Parteien wählen können soll. Das sind zweifellos gute Ideen. Sie werden aber die Komplexitä­t beispielsw­eise der Regulierun­g von Fremdwähru­ngsgeschäf­ten nicht senken können. Und so sehr man die Bürger an solchen Fragen beteiligt: Ohne ihr grundsätzl­iches Vertrauen in Fachleute ist alles verloren.

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