Den Bürgern mehr Mitsprache verleihen
Reformideen. Die Minister als Mitglieder eines europäischen Oberhauses? Europaweit wählbare Spitzenkandidaten für das Europaparlament? An Ideen für die verstärkte Teilhabe der Bürger an der Gesetzgebung der Union mangelt es nicht. Ob sie ein misstrauische
Brüssel. Ehe die Finanzkrise vor neun Jahren über den Atlantik schwappte und die Europäische Union in die schwerste Existenzkrise seit ihrem Beginn stürzte, ließen sich Bedenken an der mangelnden Teilhabe der europäischen Bürger an der Gesetzschaffung in Brüssel und Straßburg mit folgendem Argument zur Seite wischen: Gewiss, die Union mag nicht allen Formalkriterien einer perfekten liberalen Demokratie entsprechen, doch dank aufgeklärter Experten und Technokraten hat sie einen Binnenmarkt und Wettbewerbsregeln geschaffen, welche die Grundlage für den breiten Massenwohlstand in Europa sind.
Die Eurokrise, das Erstarken autoritärer Kräfte in Osteuropa und die statistisch begründete Einsicht, dass die vier Grundfreiheiten des Binnenmarktes für sich allein nicht garantieren, dass jeder Europäer aus dem Vollen seiner Begabungen schöpfen kann, haben diese Verteidigungslinie, die man vor allem in Gesprächen mit Funktionären der Kommission oft hört, durchbrochen. Nur kleine Minderheiten der Bürger in den einzelnen Mitgliedstaaten sind mit dem Zustand der Demokratie auf EU-Ebene zufrieden (siehe nebenstehenden Bericht).
Lange hat man in Brüssel geglaubt, man könne über den Unmut der Menschen hinwegblicken. Doch dann kam im Jahr 2012 nach starkem, vor allem im Internet wirksam organisiertem Widerstand Acta, ein internationales Abkommen gegen Produktpiraterie, zu Fall. Seither ist fast jeder völkerrechtliche Vertrag, den die Kommission im Auftrag der EU verhandelt, ein Spießrutenlauf durch die sozialen Medien, regionalen Parlamente und Protestkundgebungen – mit dem transatlantischen Handelsabkommen TTIP als bisher prominentestem Opfer.
Es ist alles sehr kompliziert
„Die Finanzkrise und der Umgang mit ihr beweisen, dass expertengetriebene Politikgestaltung auf Kosten der Bürgerbeteiligung keine Garantie für wirksamere Politiken sind, die das Wohlergehen der Bürger maximieren“, hält die Politikwissenschaftlerin Firat Cengiz von der University of Liverpool in einem Essay für den Blog der London School of Economics fest. Das Problem sei, dass Bereiche wie die Wettbewerbspolitik zusehends ausschließlich von Technokraten bevölkert werden, die dann über diese Politik nur in einer technischen Sprache kommunizieren, die kein einfacher Bürger versteht. „Das hat die Möglichkeiten für demokratisches Engagement untergraben“, kritisiert Cengiz, die in einer Studie den Diskurs rund um die Reform der Wettbewerbsregeln der Union untersucht hat.
Eine Vertrauensfrage
Diese Technokratisierung ist der größte Feind der Union: Das konnte man anschaulich daran beobachten, wie die Gegner von TTIP unter Ausnutzung der Unwissenheit der meisten Bürger darüber, wie Zollsysteme, Handelsvorschriften und Investitionsstreitschlichtung tatsächlich funktionieren, allerlei Horrorszenarien an die Wand warfen (Stichwort Chlorhuhn).
Ist man sich dieses Problems in Brüssel bewusst? Gewiss. Vor allem die von der Boulevardpresse oft gescholtenen Europaparlamentarier haben ein gutes Gespür für die Notwendigkeit, Europa den Bürgern wieder verständlich zu machen. Allerdings ist es fraglich, inwiefern ihre Vorschläge für die Verstärkung der demokratischen Teilhabe am Gesetzwerdungsprozess dieser Einsicht Rechnung tragen. Im Februar fasste das Parlament drei Beschlüsse, in denen es Reformen fordert, die schon jetzt im Rahmen des geltenden Europarechts möglich wären. So könnte der Rat der EU (Ministerrat), im Rahmen dessen die Regierungen schon jetzt als Mitgesetzgeber wirken, in eine Art europäisches Oberhaus umgewandelt werden. Die jeweiligen Fachminister (Umwelt, Justiz, Inneres etc.) sollten, so wie es die Fachausschüsse des Parlaments tun, als vorbereitende Gremien tagen; die Entscheidungen, die sie derzeit treffen, sollten dann in regelmäßigen gemeinsamen, öffentlichen Ministerratssitzungen fallen. Bedenkenswert ist auch der Vorschlag, dass jeder Bürger bei den Europawahlen mit einem Extrastimmzettel europaweite Spitzenkandidaten der Parteien wählen können soll. Das sind zweifellos gute Ideen. Sie werden aber die Komplexität beispielsweise der Regulierung von Fremdwährungsgeschäften nicht senken können. Und so sehr man die Bürger an solchen Fragen beteiligt: Ohne ihr grundsätzliches Vertrauen in Fachleute ist alles verloren.