„Es wird mehr Regeln geben müssen“
Interview. Edmund Stoiber, Bayerns ExRegierungschef und CSU-Altvorsitzender, hat sich im Auftrag der EU-Kommission Gedanken über eine Entbürokratisierung Europas gemacht.
Die Presse: Das Eingangszitat des unter Ihrer Kuratel verfassten und 2014 veröffentlichten Berichts zur Entbürokratisierung der EU stammt vom französischen Staatstheoretiker Montesquieu: „Nutzlose Gesetze entkräften die notwendigen.“Wie erkennt man den Unterschied? Edmund Stoiber: Man erkennt ihn daran, ob Gesetze ihre Ziele erreichen – oder eben nicht. In Deutschland beispielsweise hat die Einführung der Mietpreisbremse nicht zu dem vom Gesetzgeber beabsichtigten Fall der Mietpreise geführt. Derart nutzlose Gesetze gibt es leider viel zu viele.
Ist ein über die Maßen motivierter Beamtenapparat schuld an derartigen Verfehlungen? Eine Bürokratie kann nur dann entstehen, wenn die gesetzlichen Grundlagen dafür geschaffen werden. Die entscheidende Frage lautet immer: Muss ich ein Problem wirklich regeln, und rechtfertigt das Ziel den bürokratischen Aufwand? Die Antwort darauf muss immer die Politik geben. Unsere Arbeitsgruppe hat festgestellt, dass die Bürokratie in Europa jährlich 360 Mrd. Euro an Verwaltungskosten verursacht. Davon gehen rund 150 Mrd. Euro auf die Kappe der EU, der Rest entsteht durch nationale Gesetzgebung. Ein Drittel der durch die EU verursachten Bürokratiekosten, also rund 50 Mrd. Euro, entstehen durch ineffiziente Umsetzung und „Goldplating“, das heißt „Draufsatteln“der Mitgliedstaaten . . .
. . . also unnötige Veredelung von Gesetzen auf nationaler Ebene. Man muss immer zwei Faktoren im Auge behalten – die Gesetzgebung in Brüssel und die Umsetzung in den nationalen Parlamenten. Ich gebe Ihnen ein Beispiel für die Problematik: Es gibt eine Richtlinie über Messgeräte. Nun fällt auch ein Bierkrug unter diese Richtlinie, denn in dem Krug muss ein Strich sein, der das Volumen markiert, damit der Kunde nicht betrogen werden kann.
Und wo liegt das Problem? In Deutschland gibt es steinerne Maßkrüge, die nicht durchsichtig sind. Was machen Sie nun mit einem Steinkrug, der zugleich auch ein offizielles Messgerät ist? Jetzt hat der deutsche Gesetzgeber den Wirten im Bierzelt vorgeschrieben, dass sie ihre Gäste per Aushang darauf hinzuweisen haben, dass neben den Steinkrügen auch Glaskrüge zur Messung des Inhalts zur Verfügung stehen und die werte Kundschaft auf Messgeräte aus Glas gesetzlichen Anspruch hat. Das ist ein Wahnsinn! Und Brüssel hat das gar nicht vorgeschrieben. Ist es denn so schlimm, wenn es keine explizite Regel für steinerne Maßkrüge gibt? Wer so etwas in ein Gesetz hineinschreibt, dem ist nicht mehr zu helfen.
Wie lassen sich derartige Pannen am besten vermeiden? Aufgrund unserer Vorschläge in der Arbeitsgruppe gibt es auf EUEbene seit der Kommission von Jean-Claude Juncker eine noch breitere Konsultation mit Verbänden und Organisationen als unter seinem Vorgänger Barroso, bevor ein Gesetzesvorschlag gemacht wird – das sogenannte Konsultationsverfahren. Nachdem mit Betroffenen erörtert wurde, ob ein Gesetz Sinn macht, kommt Frans Timmermans als der für bessere Gesetzgebung („Better Regulation“) verantwortliche Erste Vizepräsident der EU-Kommission ins Spiel und überprüft neben den wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen auch die bürokratischen Folgen. Beraten wird er dabei vom „Regulatory Scrutiny Board“, das zur Hälfte aus unabhängigen Experten besteht. Timmermans kann überbürokratische Vorschläge zurückweisen. Und zu guter Letzt gibt es mittlerweile auch eine verpflichtende Evaluation von bereits beschlossenen Gesetzen. Im Übrigen hat die Kommission zwischen 2015 und 2017 statt jährlich 130 neuer Initiativen nur noch durchschnittlich etwas über 20 Initiativen in den jährlichen Arbeitsprogrammen vorgestellt.
Nennen wir ein konkretes Beispiel: das Anfang 2013 lancierte und dann wieder zurückgezogene Verbot von befüllbaren Ölkännchen in der Gastronomie. An welcher Stelle wäre der Gesetzesvorschlag im jetzigen System abgeschmettert worden? Das würde jetzt spätestens bei der Abwägung von Kosten und Nutzen abgefangen werden. Man käme in Brüssel sehr rasch drauf, dass es sich hier nicht um eine europäische Aufgabe handelt . . .
. . . sondern um Befriedigung von Partikularinteressen. Genau. Die Frage, ob aus hygienischen Gründen jedem Gast ein neues Ölkännchen angeboten werden soll, mag zwar in heißen Ländern wie Spanien, Portugal oder Italien eine Rolle spielen, aber nicht in Dänemark oder Deutschland. Doch zurück zu Ihrer Frage. So wie das System jetzt aufgestellt ist, würde Kommissionsvizepräsident Timmermans sehr früh ein Machtwort sprechen und den Vorschlag abschmettern, wie übrigens auch schon der damals zuständige Agrarkommissar Ciolos.¸ Spanien hat dann ein entsprechendes nationales Gesetz beschlossen. Brüssel ist nicht immer unschuldig am Bürokratieaufwand, aber es ist lernfähig. Das Problem ist jedenfalls erkannt worden. Der europäische Gesetzgeber muss seine Ziele mit dem kleinstmöglichen bürokratischen Aufwand erreichen. Ich hoffe, dass sich diese Erkenntnis auch in nationalen Parlamenten und Verwaltungen durchsetzt.
Muss ein gutes EU-Gesetz so diskret funktionieren, dass es von den Bürgern gar nicht wahrgenommen wird? Ganz so ist es nicht. Steuer- und Strafgesetze werden Bürger immer spüren. Ein freiheitlicher Rechtsstaat braucht Regeln, diese Regeln müssen vollzogen werden – was ein Riesenfortschritt ist gegenüber früheren Zeiten, als der König machen konnte, was er wollte. In unserer hochkomplexen Welt wird es immer mehr Regeln geben müssen. So hat beispielsweise die Finanzkrise eine Regelungsdichte ausgelöst, die man vorher nicht hatte. Auch die Digitalisierung schafft Bedarf an neuen Regeln, wie beim autonomen Fahren.
Unter Juncker hat sich die EUKommission dazu verpflichtet, weniger Gesetze vorzuschlagen als früher. Ist das nicht ein Widerspruch? Ich würde das nicht so sehen. Die Kommission und das Europaparlament haben das Übermaß an Bürokratie als politisches Problem erkannt, und dass die EU die wirklich großen Probleme in Europa lösen muss.
Die Kommission hat mehrere Szenarien zur Zukunft der EU vorgelegt – zur Auswahl stehen „Weitermachen wie bisher“, „Fokus auf den Binnenmarkt“, „Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten“, „Weniger machen, dafür aber intensiver“sowie „Die Vereinigten Staaten von Europa“. Welches Szenario liegt Ihnen am nächsten? Ich glaube nicht, dass wir zu den Vereinigten Staaten von Europa verschmelzen können und sollen. Dafür sind trotz vieler Gemeinsamkeiten die kulturellen Unterschiede zu groß. Die EU muss nicht jedes Detail für alle Länder gleich lösen. Es muss möglich sein, dass sich Deutschland oder Österreich zusätzlich Regeln verordnen oder auch mit weniger Regeln auskommen dürfen. Europa braucht aber auch keinen Bundesstaat, da die Nationalstaaten in so wichtigen Bereichen wie der Gesundheits-, Renten- und Arbeitsmarktpolitik sowie bei der Inneren Sicherheit und in der Bildungs-, Kultur- und Medienpolitik nach wie vor die entscheidenden Akteure sind und bleiben werden.
Es gibt doch aber sehr wohl Handlungsbedarf auf Gemeinschaftsebene. Das stimmt, es gibt neue europäische Aufgaben, beispielsweise im Bereich Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Auch über einen europäischen Finanzminister werden wir sprechen müssen. Die EU wird neben der Vollendung und Verwaltung des Binnenmarkts neue politische Verantwortungen bekommen. Und der Schwerpunkt der europäischen Politik wird und muss sich auf die großen Fragen richten.