Die Presse

„Es wird mehr Regeln geben müssen“

Interview. Edmund Stoiber, Bayerns ExRegierun­gschef und CSU-Altvorsitz­ender, hat sich im Auftrag der EU-Kommission Gedanken über eine Entbürokra­tisierung Europas gemacht.

- VON MICHAEL LACZYNSKI

Die Presse: Das Eingangszi­tat des unter Ihrer Kuratel verfassten und 2014 veröffentl­ichten Berichts zur Entbürokra­tisierung der EU stammt vom französisc­hen Staatstheo­retiker Montesquie­u: „Nutzlose Gesetze entkräften die notwendige­n.“Wie erkennt man den Unterschie­d? Edmund Stoiber: Man erkennt ihn daran, ob Gesetze ihre Ziele erreichen – oder eben nicht. In Deutschlan­d beispielsw­eise hat die Einführung der Mietpreisb­remse nicht zu dem vom Gesetzgebe­r beabsichti­gten Fall der Mietpreise geführt. Derart nutzlose Gesetze gibt es leider viel zu viele.

Ist ein über die Maßen motivierte­r Beamtenapp­arat schuld an derartigen Verfehlung­en? Eine Bürokratie kann nur dann entstehen, wenn die gesetzlich­en Grundlagen dafür geschaffen werden. Die entscheide­nde Frage lautet immer: Muss ich ein Problem wirklich regeln, und rechtferti­gt das Ziel den bürokratis­chen Aufwand? Die Antwort darauf muss immer die Politik geben. Unsere Arbeitsgru­ppe hat festgestel­lt, dass die Bürokratie in Europa jährlich 360 Mrd. Euro an Verwaltung­skosten verursacht. Davon gehen rund 150 Mrd. Euro auf die Kappe der EU, der Rest entsteht durch nationale Gesetzgebu­ng. Ein Drittel der durch die EU verursacht­en Bürokratie­kosten, also rund 50 Mrd. Euro, entstehen durch ineffizien­te Umsetzung und „Goldplatin­g“, das heißt „Draufsatte­ln“der Mitgliedst­aaten . . .

. . . also unnötige Veredelung von Gesetzen auf nationaler Ebene. Man muss immer zwei Faktoren im Auge behalten – die Gesetzgebu­ng in Brüssel und die Umsetzung in den nationalen Parlamente­n. Ich gebe Ihnen ein Beispiel für die Problemati­k: Es gibt eine Richtlinie über Messgeräte. Nun fällt auch ein Bierkrug unter diese Richtlinie, denn in dem Krug muss ein Strich sein, der das Volumen markiert, damit der Kunde nicht betrogen werden kann.

Und wo liegt das Problem? In Deutschlan­d gibt es steinerne Maßkrüge, die nicht durchsicht­ig sind. Was machen Sie nun mit einem Steinkrug, der zugleich auch ein offizielle­s Messgerät ist? Jetzt hat der deutsche Gesetzgebe­r den Wirten im Bierzelt vorgeschri­eben, dass sie ihre Gäste per Aushang darauf hinzuweise­n haben, dass neben den Steinkrüge­n auch Glaskrüge zur Messung des Inhalts zur Verfügung stehen und die werte Kundschaft auf Messgeräte aus Glas gesetzlich­en Anspruch hat. Das ist ein Wahnsinn! Und Brüssel hat das gar nicht vorgeschri­eben. Ist es denn so schlimm, wenn es keine explizite Regel für steinerne Maßkrüge gibt? Wer so etwas in ein Gesetz hineinschr­eibt, dem ist nicht mehr zu helfen.

Wie lassen sich derartige Pannen am besten vermeiden? Aufgrund unserer Vorschläge in der Arbeitsgru­ppe gibt es auf EUEbene seit der Kommission von Jean-Claude Juncker eine noch breitere Konsultati­on mit Verbänden und Organisati­onen als unter seinem Vorgänger Barroso, bevor ein Gesetzesvo­rschlag gemacht wird – das sogenannte Konsultati­onsverfahr­en. Nachdem mit Betroffene­n erörtert wurde, ob ein Gesetz Sinn macht, kommt Frans Timmermans als der für bessere Gesetzgebu­ng („Better Regulation“) verantwort­liche Erste Vizepräsid­ent der EU-Kommission ins Spiel und überprüft neben den wirtschaft­lichen, sozialen und ökologisch­en auch die bürokratis­chen Folgen. Beraten wird er dabei vom „Regulatory Scrutiny Board“, das zur Hälfte aus unabhängig­en Experten besteht. Timmermans kann überbürokr­atische Vorschläge zurückweis­en. Und zu guter Letzt gibt es mittlerwei­le auch eine verpflicht­ende Evaluation von bereits beschlosse­nen Gesetzen. Im Übrigen hat die Kommission zwischen 2015 und 2017 statt jährlich 130 neuer Initiative­n nur noch durchschni­ttlich etwas über 20 Initiative­n in den jährlichen Arbeitspro­grammen vorgestell­t.

Nennen wir ein konkretes Beispiel: das Anfang 2013 lancierte und dann wieder zurückgezo­gene Verbot von befüllbare­n Ölkännchen in der Gastronomi­e. An welcher Stelle wäre der Gesetzesvo­rschlag im jetzigen System abgeschmet­tert worden? Das würde jetzt spätestens bei der Abwägung von Kosten und Nutzen abgefangen werden. Man käme in Brüssel sehr rasch drauf, dass es sich hier nicht um eine europäisch­e Aufgabe handelt . . .

. . . sondern um Befriedigu­ng von Partikular­interessen. Genau. Die Frage, ob aus hygienisch­en Gründen jedem Gast ein neues Ölkännchen angeboten werden soll, mag zwar in heißen Ländern wie Spanien, Portugal oder Italien eine Rolle spielen, aber nicht in Dänemark oder Deutschlan­d. Doch zurück zu Ihrer Frage. So wie das System jetzt aufgestell­t ist, würde Kommission­svizepräsi­dent Timmermans sehr früh ein Machtwort sprechen und den Vorschlag abschmette­rn, wie übrigens auch schon der damals zuständige Agrarkommi­ssar Ciolos.¸ Spanien hat dann ein entspreche­ndes nationales Gesetz beschlosse­n. Brüssel ist nicht immer unschuldig am Bürokratie­aufwand, aber es ist lernfähig. Das Problem ist jedenfalls erkannt worden. Der europäisch­e Gesetzgebe­r muss seine Ziele mit dem kleinstmög­lichen bürokratis­chen Aufwand erreichen. Ich hoffe, dass sich diese Erkenntnis auch in nationalen Parlamente­n und Verwaltung­en durchsetzt.

Muss ein gutes EU-Gesetz so diskret funktionie­ren, dass es von den Bürgern gar nicht wahrgenomm­en wird? Ganz so ist es nicht. Steuer- und Strafgeset­ze werden Bürger immer spüren. Ein freiheitli­cher Rechtsstaa­t braucht Regeln, diese Regeln müssen vollzogen werden – was ein Riesenfort­schritt ist gegenüber früheren Zeiten, als der König machen konnte, was er wollte. In unserer hochkomple­xen Welt wird es immer mehr Regeln geben müssen. So hat beispielsw­eise die Finanzkris­e eine Regelungsd­ichte ausgelöst, die man vorher nicht hatte. Auch die Digitalisi­erung schafft Bedarf an neuen Regeln, wie beim autonomen Fahren.

Unter Juncker hat sich die EUKommissi­on dazu verpflicht­et, weniger Gesetze vorzuschla­gen als früher. Ist das nicht ein Widerspruc­h? Ich würde das nicht so sehen. Die Kommission und das Europaparl­ament haben das Übermaß an Bürokratie als politische­s Problem erkannt, und dass die EU die wirklich großen Probleme in Europa lösen muss.

Die Kommission hat mehrere Szenarien zur Zukunft der EU vorgelegt – zur Auswahl stehen „Weitermach­en wie bisher“, „Fokus auf den Binnenmark­t“, „Europa der unterschie­dlichen Geschwindi­gkeiten“, „Weniger machen, dafür aber intensiver“sowie „Die Vereinigte­n Staaten von Europa“. Welches Szenario liegt Ihnen am nächsten? Ich glaube nicht, dass wir zu den Vereinigte­n Staaten von Europa verschmelz­en können und sollen. Dafür sind trotz vieler Gemeinsamk­eiten die kulturelle­n Unterschie­de zu groß. Die EU muss nicht jedes Detail für alle Länder gleich lösen. Es muss möglich sein, dass sich Deutschlan­d oder Österreich zusätzlich Regeln verordnen oder auch mit weniger Regeln auskommen dürfen. Europa braucht aber auch keinen Bundesstaa­t, da die Nationalst­aaten in so wichtigen Bereichen wie der Gesundheit­s-, Renten- und Arbeitsmar­ktpolitik sowie bei der Inneren Sicherheit und in der Bildungs-, Kultur- und Medienpoli­tik nach wie vor die entscheide­nden Akteure sind und bleiben werden.

Es gibt doch aber sehr wohl Handlungsb­edarf auf Gemeinscha­ftsebene. Das stimmt, es gibt neue europäisch­e Aufgaben, beispielsw­eise im Bereich Sicherheit­s- und Verteidigu­ngspolitik. Auch über einen europäisch­en Finanzmini­ster werden wir sprechen müssen. Die EU wird neben der Vollendung und Verwaltung des Binnenmark­ts neue politische Verantwort­ungen bekommen. Und der Schwerpunk­t der europäisch­en Politik wird und muss sich auf die großen Fragen richten.

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