Ich bin nie mehr wirklich weg
Die digitalen Errungenschaften haben das Reisen stark verändert. Vieles wurde bequemer – aber ein Stück Seele ist verloren gegangen.
Wir kamen aus Norwegen zurück, sechs Wochen Lofoten, ohne Fernsehen, ohne Zeitungen, ohne Kontakt nach Hause. Die alte Fischerhütte hatten wir zufällig im Vorbeifahren entdeckt, billig gemietet, und zum Abschied hatte der Besitzer uns, seinen ersten Touristen, eine verrostete Walharpune geschenkt. Als wir in Travemünde die Fähre verließen und das Autoradio anschalteten, hörten wir, dass drei Tage zuvor Olof Palme erschossen worden war. In Schweden, nicht allzu weit entfernt. Europa befand sich in Aufruhr – und an uns war das alles spurlos vorbeigegangen.
Es klingt undenkbar heute. Der Reisende des Jahres 2017 hat in langen nächtlichen Sitzungen alle Angebote von Ferienwohnungen in Nordnorwegen studiert. Er hat sich durch Bewertungen gewühlt, einen 360-Grad-Fotorundgang durch sein künftiges Feriendomizil unternommen und für den ersten Abend übers Internet einen Tisch im Toprestaurant gebucht. Seine wichtigste Frage lautete nicht: Wie sieht das Boot aus, und wie sind die Angelmöglichkeiten? Sondern: Funktioniert das WLAN problemlos? Später, vor Ort, bekommt sein Tablet den Ehrenplatz auf dem Tisch. Onlinemedien liefern die notwendige Dosis Tagesnews, E-Mails werden dreimal am Tag gecheckt, jeden zweiten Abend steht die Skype-Sitzung mit den Freunden zu Hause an. Und natürlich werden die Fotos von den Ölsardinendosen im Heimatmuseum, vom Terrassenfrühstück mit Krabben und von den ersten selbst gepflückten Moltebeeren regelmäßig mit allen WhatsApp-Lieben geteilt.
Ich bin dann mal weg, und zwar radikal – das gibt es nicht mehr. We stay connected, heißt die Devise. Wir holen die Welt nach Hause, und unser Zuhause nehmen wir mit in die Welt. Kein Zweifel: Die Geräte und Programme des digitalen Universums haben das Reisen einfacher, bequemer und demokratischer gemacht, der Wohlfühlfaktor hat zugenommen. Früher gab’s mehr Risiko beim Hinausgehen in die Welt, aber auch mehr Zauber und mehr Wundertüte. Der Flug, die Fähre, die Bahnfahrt markierten eine Grenze: die zwischen dem heimisch Vertrauten und den weiten, offenen Räumen, in denen alles möglich schien.
Man musste sich einlassen auf Unterkünfte, die man nur aus Zeitungsanzeigen oder Katalogen kannte, oder darauf vertrauen, ir- gendwelche unterwegs zu finden. Zug- oder Busfahrten außerhalb Europas vorab zu organisieren, war fast unmöglich, Verabredungen musste man lang vorher per Brief treffen.
Kundenfreundlich war das alles nicht. Hatte man Pech, landete man in einem lauten, zugigen Drecksloch in Merida. Meinte der Reisegott es gut mit einem, stieß man auf den Orkney-Inseln auf eine einsame Steinhütte an der See, in der man abends ganz allein am Torffeuer Whisky trank und den Nebel vor dem Fenster hochsteigen sah. Die Adresse wurde von Mund zu Mund weitergegeben und noch nicht als Geheimtipp durch sämtliche elektronischen Communitys gejagt. Vor Ort gönnte man sich den Luxus, nicht erreichbar zu sein. Telefonieren war in vielen Regionen nur auf dem Postamt möglich, mit Anmeldung und Wartezeiten. Im Kopf sammelte sich ein Stapel Fragen, der von Tag zu Tag größer wurde und die sich noch nicht stante pede per Google beantworten ließen.
Fischplatte und Kotzerei
Die Rückkehr nach Hause aber wurde zum Fest. Die Post mehrerer Wochen wartete ungeöffnet. Der neueste Klatsch ebenso. Freunde, die nicht Tag für Tag durch Fotohäppchen auf dem Laufenden gehalten worden waren, hofften, verblüffende Geschichten zu erfahren. Und sie bekamen die volle Dröhnung ab. Übersprudelnd, einander ins Wort fallend, erzählten die, die „draußen“gewesen waren. So viele Neuigkeiten aus einer unbekannten Region, soviel, was zu Hause passiert war. Pures Erstaunen, dass die Welt sich dort ohne einen weitergedreht hatte. Ein paar Tage später kamen dann die entwickelten Dias aus dem Labor. Die aufgeregte erste Durchsicht. Dieses Glück, die letzten Wochen noch einmal Tag für Tag nachzuerleben.
Heute sind die Fotos längst vorausgereist, die Postkarte mit dem Selfie wurde im Internet in Auftrag gegeben, die ganze Aufregung mit der wunderbaren Fischplatte und der nächtlichen Kotzerei hinterher hat man schon am nächsten Morgen per Skype Happen für Happen durchdiskutiert.
Ach ja? Und trauert irgendjemand dieser Welt von damals hinterher – außer ein paar technikfeindlichen Digital Naives, die es einfach nicht auf die Reihe kriegen, ihren Laptop virenfrei zu hal- ten? Auch ich bin alles andere als ein verbitterter Festplattenstürmer. Auch ich habe mein Handy auf Reisen dabei, bin genervt von deutschen Hotels, die immer noch für WLAN-Nutzung abkassieren, rufe täglich meine Mails ab.
Wer fände es denn nicht praktisch, erreichbar zu sein, wenn die Tante kränkelt, der Kollege den wichtigen Beitrag verlegt oder das Nachbarskind seinen ersten Milchzahn verloren hat. Keine zerfledderten Stadtpläne mehr wälzen! Aus Tausenden von Songs seine Lieblingsmusik wählen, ohne dass die Kassette im Rekorder zerbröselt! Dank einer kleinen elektronischen Besserwisserin auf der Windschutzscheibe durch den Pariser Feierabendverkehr navigieren, ohne einen Herzinfarkt zu riskieren – wie großartig ist das denn alles! Selbst die Gefahr, falsche Souvenirs nach Hause zu bringen, ist ein für allemal gebannt: Hier, das Foto von dem Maya-Webschal – wäre der genehm, mein Schatz?
Alles gut also – wäre das Reisen dank der elektronischen Hilfsmittel nicht nur entspannter, sondern auch seelenloser geworden. Der technische Fortschritt wächst, und etwas Wichtiges verschwindet: das Unverständliche. Der Glücksschrei. Die Ratlosigkeit. Die Unbehaustheit. Verloren geht so etwas wie das Herz des Reisens.
Und noch etwas anderes, Elementares fehlt zunehmend. Wer sein Zuhause virtuell mit sich trägt, nabelt sich nicht ab. Er heult nicht vor Heimweh, weil er sich ja abends am Skype-Bildschirm trösten lassen kann. Vorbuchung statt Schlangestehen, Kreditkarte statt Geldwechsel, Übersetzungsprogramme anstelle von Hände-undFüße-Kauderwelsch – dank der elektronischen Hilfsmittel muss der Reisende sich immer seltener durchbeißen und -boxen. Alles, was wehtut am Unterwegssein, alles, was verstört und aufwühlt, wird weniger. Reisen verkommt zum bloßen passiven Konsum – zum Konsum des ohnehin Bekannten.
Samarkand, Chichicastenango, Saskatchewan – selbst große Namen verlieren ihren Zauber, wenn die Bilder davon weltweit beliebig abrufbar sind. Warum noch hinfahren, wenn man sich Medresen, Osterprozessionen und Bisonherden per Internet ins Haus holen kann? Am Ende wartet nur die Enttäuschung: Das also ist Patagonien? Hm, fast so gelungen wie auf den Fotos.
Also ist dies am Ende doch nur die kauzige Kulturkritik eines etwas romantisch veranlagten Zeitgenossen geworden, der vielleicht die Welt liebt, sich aber mit Apps nicht richtig auskennt? Ach was. I’m a user. Ich genieße die Vorteile der digitalen Welt wie alle anderen Nutzer auch. Punkt. Aber eine kleine unzeitgemäße Verweigerung gönne ich mir.
Vor einer Reise an ein mir unbekanntes Ziel hüte ich mich, Fotoblogs, Bildbände oder Magazine anzusehen. Das Recht des jungfräulichen Blicks, das Glück des ersten Rundumschauens im Land selbst, darauf bestehe ich weiterhin eifersüchtig. Eine winzige Widerborstigkeit gegen den unaufhaltsamen Lauf der Zeit. Und ein wenig raunzen wird man ja wohl auch noch dürfen.