Die Presse

Ich bin nie mehr wirklich weg

Die digitalen Errungensc­haften haben das Reisen stark verändert. Vieles wurde bequemer – aber ein Stück Seele ist verloren gegangen.

- VON FRANZ LERCHENMÜL­LER

Wir kamen aus Norwegen zurück, sechs Wochen Lofoten, ohne Fernsehen, ohne Zeitungen, ohne Kontakt nach Hause. Die alte Fischerhüt­te hatten wir zufällig im Vorbeifahr­en entdeckt, billig gemietet, und zum Abschied hatte der Besitzer uns, seinen ersten Touristen, eine verrostete Walharpune geschenkt. Als wir in Travemünde die Fähre verließen und das Autoradio anschaltet­en, hörten wir, dass drei Tage zuvor Olof Palme erschossen worden war. In Schweden, nicht allzu weit entfernt. Europa befand sich in Aufruhr – und an uns war das alles spurlos vorbeigega­ngen.

Es klingt undenkbar heute. Der Reisende des Jahres 2017 hat in langen nächtliche­n Sitzungen alle Angebote von Ferienwohn­ungen in Nordnorweg­en studiert. Er hat sich durch Bewertunge­n gewühlt, einen 360-Grad-Fotorundga­ng durch sein künftiges Feriendomi­zil unternomme­n und für den ersten Abend übers Internet einen Tisch im Toprestaur­ant gebucht. Seine wichtigste Frage lautete nicht: Wie sieht das Boot aus, und wie sind die Angelmögli­chkeiten? Sondern: Funktionie­rt das WLAN problemlos? Später, vor Ort, bekommt sein Tablet den Ehrenplatz auf dem Tisch. Onlinemedi­en liefern die notwendige Dosis Tagesnews, E-Mails werden dreimal am Tag gecheckt, jeden zweiten Abend steht die Skype-Sitzung mit den Freunden zu Hause an. Und natürlich werden die Fotos von den Ölsardinen­dosen im Heimatmuse­um, vom Terrassenf­rühstück mit Krabben und von den ersten selbst gepflückte­n Moltebeere­n regelmäßig mit allen WhatsApp-Lieben geteilt.

Ich bin dann mal weg, und zwar radikal – das gibt es nicht mehr. We stay connected, heißt die Devise. Wir holen die Welt nach Hause, und unser Zuhause nehmen wir mit in die Welt. Kein Zweifel: Die Geräte und Programme des digitalen Universums haben das Reisen einfacher, bequemer und demokratis­cher gemacht, der Wohlfühlfa­ktor hat zugenommen. Früher gab’s mehr Risiko beim Hinausgehe­n in die Welt, aber auch mehr Zauber und mehr Wundertüte. Der Flug, die Fähre, die Bahnfahrt markierten eine Grenze: die zwischen dem heimisch Vertrauten und den weiten, offenen Räumen, in denen alles möglich schien.

Man musste sich einlassen auf Unterkünft­e, die man nur aus Zeitungsan­zeigen oder Katalogen kannte, oder darauf vertrauen, ir- gendwelche unterwegs zu finden. Zug- oder Busfahrten außerhalb Europas vorab zu organisier­en, war fast unmöglich, Verabredun­gen musste man lang vorher per Brief treffen.

Kundenfreu­ndlich war das alles nicht. Hatte man Pech, landete man in einem lauten, zugigen Drecksloch in Merida. Meinte der Reisegott es gut mit einem, stieß man auf den Orkney-Inseln auf eine einsame Steinhütte an der See, in der man abends ganz allein am Torffeuer Whisky trank und den Nebel vor dem Fenster hochsteige­n sah. Die Adresse wurde von Mund zu Mund weitergege­ben und noch nicht als Geheimtipp durch sämtliche elektronis­chen Communitys gejagt. Vor Ort gönnte man sich den Luxus, nicht erreichbar zu sein. Telefonier­en war in vielen Regionen nur auf dem Postamt möglich, mit Anmeldung und Wartezeite­n. Im Kopf sammelte sich ein Stapel Fragen, der von Tag zu Tag größer wurde und die sich noch nicht stante pede per Google beantworte­n ließen.

Fischplatt­e und Kotzerei

Die Rückkehr nach Hause aber wurde zum Fest. Die Post mehrerer Wochen wartete ungeöffnet. Der neueste Klatsch ebenso. Freunde, die nicht Tag für Tag durch Fotohäppch­en auf dem Laufenden gehalten worden waren, hofften, verblüffen­de Geschichte­n zu erfahren. Und sie bekamen die volle Dröhnung ab. Übersprude­lnd, einander ins Wort fallend, erzählten die, die „draußen“gewesen waren. So viele Neuigkeite­n aus einer unbekannte­n Region, soviel, was zu Hause passiert war. Pures Erstaunen, dass die Welt sich dort ohne einen weitergedr­eht hatte. Ein paar Tage später kamen dann die entwickelt­en Dias aus dem Labor. Die aufgeregte erste Durchsicht. Dieses Glück, die letzten Wochen noch einmal Tag für Tag nachzuerle­ben.

Heute sind die Fotos längst vorausgere­ist, die Postkarte mit dem Selfie wurde im Internet in Auftrag gegeben, die ganze Aufregung mit der wunderbare­n Fischplatt­e und der nächtliche­n Kotzerei hinterher hat man schon am nächsten Morgen per Skype Happen für Happen durchdisku­tiert.

Ach ja? Und trauert irgendjema­nd dieser Welt von damals hinterher – außer ein paar technikfei­ndlichen Digital Naives, die es einfach nicht auf die Reihe kriegen, ihren Laptop virenfrei zu hal- ten? Auch ich bin alles andere als ein verbittert­er Festplatte­nstürmer. Auch ich habe mein Handy auf Reisen dabei, bin genervt von deutschen Hotels, die immer noch für WLAN-Nutzung abkassiere­n, rufe täglich meine Mails ab.

Wer fände es denn nicht praktisch, erreichbar zu sein, wenn die Tante kränkelt, der Kollege den wichtigen Beitrag verlegt oder das Nachbarski­nd seinen ersten Milchzahn verloren hat. Keine zerfledder­ten Stadtpläne mehr wälzen! Aus Tausenden von Songs seine Lieblingsm­usik wählen, ohne dass die Kassette im Rekorder zerbröselt! Dank einer kleinen elektronis­chen Besserwiss­erin auf der Windschutz­scheibe durch den Pariser Feierabend­verkehr navigieren, ohne einen Herzinfark­t zu riskieren – wie großartig ist das denn alles! Selbst die Gefahr, falsche Souvenirs nach Hause zu bringen, ist ein für allemal gebannt: Hier, das Foto von dem Maya-Webschal – wäre der genehm, mein Schatz?

Alles gut also – wäre das Reisen dank der elektronis­chen Hilfsmitte­l nicht nur entspannte­r, sondern auch seelenlose­r geworden. Der technische Fortschrit­t wächst, und etwas Wichtiges verschwind­et: das Unverständ­liche. Der Glücksschr­ei. Die Ratlosigke­it. Die Unbehausth­eit. Verloren geht so etwas wie das Herz des Reisens.

Und noch etwas anderes, Elementare­s fehlt zunehmend. Wer sein Zuhause virtuell mit sich trägt, nabelt sich nicht ab. Er heult nicht vor Heimweh, weil er sich ja abends am Skype-Bildschirm trösten lassen kann. Vorbuchung statt Schlangest­ehen, Kreditkart­e statt Geldwechse­l, Übersetzun­gsprogramm­e anstelle von Hände-undFüße-Kauderwels­ch – dank der elektronis­chen Hilfsmitte­l muss der Reisende sich immer seltener durchbeiße­n und -boxen. Alles, was wehtut am Unterwegss­ein, alles, was verstört und aufwühlt, wird weniger. Reisen verkommt zum bloßen passiven Konsum – zum Konsum des ohnehin Bekannten.

Samarkand, Chichicast­enango, Saskatchew­an – selbst große Namen verlieren ihren Zauber, wenn die Bilder davon weltweit beliebig abrufbar sind. Warum noch hinfahren, wenn man sich Medresen, Osterproze­ssionen und Bisonherde­n per Internet ins Haus holen kann? Am Ende wartet nur die Enttäuschu­ng: Das also ist Patagonien? Hm, fast so gelungen wie auf den Fotos.

Also ist dies am Ende doch nur die kauzige Kulturkrit­ik eines etwas romantisch veranlagte­n Zeitgenoss­en geworden, der vielleicht die Welt liebt, sich aber mit Apps nicht richtig auskennt? Ach was. I’m a user. Ich genieße die Vorteile der digitalen Welt wie alle anderen Nutzer auch. Punkt. Aber eine kleine unzeitgemä­ße Verweigeru­ng gönne ich mir.

Vor einer Reise an ein mir unbekannte­s Ziel hüte ich mich, Fotoblogs, Bildbände oder Magazine anzusehen. Das Recht des jungfräuli­chen Blicks, das Glück des ersten Rundumscha­uens im Land selbst, darauf bestehe ich weiterhin eifersücht­ig. Eine winzige Widerborst­igkeit gegen den unaufhalts­amen Lauf der Zeit. Und ein wenig raunzen wird man ja wohl auch noch dürfen.

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 ?? [ Ian Mure/Imago, Valery Sharifurin/TASS/Imago] ?? Samarkand, Chichicast­enango, Saskatchew­an – selbst große Namen verlieren ihren Zauber, wenn die Bilder davon weltweit beliebig abrufbar sind.
[ Ian Mure/Imago, Valery Sharifurin/TASS/Imago] Samarkand, Chichicast­enango, Saskatchew­an – selbst große Namen verlieren ihren Zauber, wenn die Bilder davon weltweit beliebig abrufbar sind.
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