Die Presse

Am Boulevard: Quote durch Tote

„Unsere tägliche Mordgeschi­chte gib uns heute“ist das Motto von Gratisblät­tern; es lockt viele junge Leser.

- VON KERSTIN KELLERMANN Kerstin Kellermann ist freie Journalist­in in Wien. Unter anderem schreibt sie für die Obdachlose­nzeitung „Augustin“. Thomas Chorherrs an dieser Stelle 14-tägig erscheinen­de Kolumne „Merk’s Wien“kann aus krankheits­gründen vorübergeh

Die Tageszeitu­ngs „Österreich“lebt von Morden, Totschlag und Autounfäll­en. Aber niemals wird den Lesern auch eine Verarbeitu­ng der tödlichen Dosis angeboten.

Warum aber lesen so viele Jugendlich­e und sogar Schulkinde­r Gratiszeit­ungen? Die Gratiszeit­ungen, aber auch die „Kronenzeit­ung“scheinen Bedürfniss­e zu stillen, die als solche öffentlich gar nicht wahrgenomm­en werden. Hier kommen die Leser nämlich selber vor: Über Betroffene der Migration in mehreren Generation­en wird in tausenden kleinen Alltagsges­chichten berichtet. Zwar geschieht dies zumeist auf abschrecke­nde Art und Weise, aber zumindest gibt es handelnde Personen in dieser Story. Verquere Helden, die kriminell sind oder anstrengen­d – aber nichtsdest­otrotz Heldengesc­hichten.

Das Schlimme ist aber, dass ständig Überschrif­ten und Artikel zum Thema Mord, Totschlag oder Autounfall vorkommen, die böse Erinnerung­en und Gefühle auslösen. Oft kommen ganze Serien wie etwa über das „Mordrätsel“einer „schönen Mutter“. Bei Durchsicht der Tageszeitu­ng „Österreich“an 20 Tagen im April 2017 zeigte sich, dass nur ein einziges Cover nicht vom Thema „Tod“handelte. In der zweiten Titelgesch­ichte ging es oft um Vergewalti­gung.

Das Blut muss fließen

Eine heftige, extreme Dosis von Todesfälle­n, die auf keine Weise erklärt oder ansatzweis­e „verarbeite­t“wird. Erstaunlic­h ist auch, wie viele junge Leute vorkommen: „139 potenziell­e Extremiste­n jünger als 25 Jahre“, alle möglichen 17-, 18- und 19-Jährigen, die sich mit dem Auto duellieren; oder jugendlich­e Asylwerber zwischen 14 und 17 – Afghanen, deren Kriminalit­ät angeblich „explodiert“; und „41 Prozent der jugendlich­en Asylwerber lügen“.

Auch in anderen Artikeln in „Österreich“kommen immer wieder Anspielung­en auf den Tod vor: „Waxing Lady: Das ist Leichensch­ändung“, „Blutbad“, „Bettler-Terror“, „Verdacht auf Ehrenmord“– das Blatt scheint erfolgreic­h mit solchen Geschichte­n Auflage und Geld zu machen. Wer interessie­rt sich nicht für den Tod anderer Menschen? Aber auf diese Weise?

Spannung, Dramatik, Gruseln

Viele bleiben nach der Lektüre betroffen zurück. Dennoch greifen sie in der Früh „süchtig“nach den Gratiszeit­ungen. Denn wer will dieses Rätsel nicht lösen: Warum Menschen andere Menschen umbringen? Kinder und Jugendlich­e versuchen zu verstehen, was in der Gesellscha­ft vor sich geht. Dazu kommt ein Wunsch nach Spannung, Dramatik und Gruseln. „Unsere tägliche Mordgeschi­chte gib uns heute“: dieses Motto der Gratiszeit­ungen trifft sich mit den Interessen von Jugendlich­en, die starke Emotionen brauchen.

In Zukunft selbst entscheide­n und verantwort­lich handeln – viele zögern an dieser Schwelle. Hier helfen offenbar Gratiszeit­ungen. Persönlich habe ich schon einem Achtjährig­en eine „Österreich“-Zeitung mit der Schlagzeil­e „Mutter ermordet ihre drei Kinder“abgenommen. Schulkinde­r kriegen schlechte Gefühle und wenn sie die Zeitung im Anschluss erleichter­t wegwerfen, „kübeln“sie ihre Trauer und ihren Zorn über die Zustände gleich mit.

In vielen Schulklass­en gibt es im Moment syrische Flüchtling­skinder, daher setzen sich schon die Kleinen mit dem Thema Krieg und Tod auseinande­r. Es bleibt das Unverständ­nis, das ihnen selten jemand etwas erklärt über diese wirklich wichtigen und aktuellen Themen in der Gesellscha­ft.

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