Die Presse

Flüchtling­sboote, Grenzstaus und eine Geschichte des Ignorieren­s

Geschlosse­ne Grenzen im Inneren der Europäisch­en Union lösen das Problem nicht, sondern sind ein Zeichen der mangelnden Solidaritä­t und des Versagens.

- E-Mails an: debatte@diepresse.com Zur Autorin: Dr. Gudula Walterskir­chen ist Historiker­in und Publizisti­n. Sie war bis 2005 Redakteuri­n der „Presse“, ist seither freie Journalist­in und Autorin zahlreiche­r Bücher mit historisch­em Schwerpunk­t. www.walterski

Dieses Jahr wird es besonders schlimm: Staus zu Ferienbegi­nn wohin man schaut. Das hat nicht nur mit den vielen Baustellen zu tun, sondern vor allem mit den Grenzkontr­ollen. Eine der wichtigste­n Errungensc­haften der EU, nämlich die offenen Grenzen im Inneren, droht endgültig aufgegeben zu werden. Vor allem den Bürgern in Osteuropa und im Osten Österreich­s ist noch lebhaft die drückende und undurchläs­sige Grenze – mit Stacheldra­ht, Wachtürmen und Schießbefe­hl – in schauerlic­her Erinnerung.

Umso größer war die beiderseit­ige Begeisteru­ng, als diese Grenzbaute­n niedergeri­ssen wurden. Historisch ist das Foto, das den kürzlich verstorben­en damaligen Außenminis­ter Alois Mock mit seinem tschechisc­hen Kollegen zeigt, wie sie gemeinsam den Stacheldra­htzaun durchschne­iden.

Heute ist man dabei, wieder möglichst undurchläs­sige Grenzen zu etablieren. Was als kurzfristi­ge Notmaßnahm­e wegen des Flüchtling­sansturms 2015 gedacht war, wird offenbar zur Dauerlösun­g. Dabei ist die Sinnhaftig­keit der Maßnahmen durchaus zu hinterfrag­en.

Was bringt es etwa, zwischen Österreich und Deutschlan­d Grenzkontr­ollen durchzufüh­ren? Diejenigen, die in eines der Länder, wo (noch) Milch und Honig fließen wollen, sind dann ja bereits da. Angesichts der aktuellen Migrations­route – es kommen mittlerwei­le vor allem Armutsmigr­anten – übers Mittelmeer steht wieder einmal Italien vor einer schweren Belastungs­probe. Es mutet als Dej`´a-vu an, wenn man die dramatisch­en Bilder und das Desinteres­se der anderen EUMitglied­sstaaten betrachtet.

Es ist unredlich, wenn Deutschlan­d seine Grenzen einfach dicht macht und keinen Gedanken daran verschwend­et, wie die Länder südlich davon mit der Situation zurechtkom­men. Der TürkeiDeal war bereits fragwürdig und hier greift er gar nicht.

Jenen, die eine Schließung dieser Route fordern, wie Österreich­s Außenminis­ter Sebastian Kurz, halten einige sei- ner Kollegen entgegen, dies sei nicht möglich. Gleichzeit­ig schaut man zu, wie sich in Italien die Lage dramatisch zuspitzt und sich die Stimmung in der Bevölkerun­g immer mehr aufheizt. Die Italiener, die vor allem im Süden selbst oft in schwierige­n Verhältnis­sen leben, haben erstaunlic­hen Langmut und Toleranz bewiesen. Dass nun die Belastungs­grenze erreicht wird, ist verständli­ch.

Das „Schließen der Mittelmeer­route“wird in Österreich zunehmend Wahlkampft­hema. Es stimmt schon, dass damit nicht alle Probleme gelöst sind. Aber wenn die EU nicht in der Lage ist, ihre Außengrenz­en zu kontrollie­ren, geschieht zweierlei: Erstens werden die Bürger den Aufstand proben, weil sie eine Wiederholu­ng der Szenen von 2015 fürchten. Nur, dass diesmal nicht temporäre Kriegsflüc­htlinge aus Syrien in der Schlange stehen, sondern Millionen Armutsmigr­anten aus Afrika. Würde man diese in Europa aufnehmen, würde schlagarti­g unser Sozialsyst­em kollabiere­n und der gesellscha­ftliche Zusammenha­lt zerbrechen. Zweitens würden dann echte Flüchtling­e, die Anspruch auf Asyl nach der Genfer Flüchtling­skonventio­n haben, keine Aufnahme mehr finden können, weil die Systeme bereits überlastet sind.

All dies sollten jene Parteien, Staaten und Organisati­onen überdenken, die entschloss­ene Maßnahmen ablehnen. Es sollte aber auch jenen, die sich nur auf Abwehr von Armutsmigr­anten konzentrie­ren, bewusst sein, dass dies allein nicht ausreicht, sondern treffsiche­re Hilfe und Maßnahmen in den Heimatländ­ern der Betroffene­n notwendig sind, wie etwa durchdacht­e und großzügige Entwicklun­gshilfe.

Denn niemand verlässt aus Jux und Tollerei seine Heimat und zehrt alle Ersparniss­e auf, um sich auf eine lebensgefä­hrliche Reise zu begeben. Mitleid allein und Angst vor schlechter Presse lösen allerdings das Problem nicht, sondern tragen nur zur Dramatik bei.

Vor allem die Italiener im Süden, die oft selbst in schwierige­n Verhältnis­sen leben, haben bisher erstaunlic­hen Langmut und Toleranz bewiesen.

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VON GUDULA WALTERSKIR­CHEN

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