Brenner: Rüsten für den Ernstfall
Flucht. Mehr als 10.000 Migranten sind vergangene Woche an Italiens Küste angekommen. Viele wollen weiter nach Norden. An der Grenze zu Österreich ist die Lage noch ruhig, doch die Vorbereitungen laufen.
Wien. An Italiens Küsten dürfte ein Rekord fallen. Experten rechnen mit mindestens 200.000 Ankünften von Migranten bis Jahresende, allein in der vergangenen Woche waren es mehr als 10.000 Menschen. Den bisherigen Rekord hatte es 2016 gegeben, als 181.000 Menschen gezählt wurden. Seit 2014 sind mehr als eine halbe Million Migranten an Italiens Küsten gestrandet.
Die meisten starten in Libyen und stranden in Sizilien oder Kalabrien. Eine neue Route führt nun auch über Algerien nach Mittelitalien, bzw. Sardinien. Die Mehrheit der Mittelmeer-Boatpeople kommt laut aktuellen UNHCR-Daten aus Westafrika – aus Guinea, Nigeria und der Elfenbeinküste; sie gelten als sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge. Darunter befinden sich immer mehr Frauen und alleinreisende Minderjährige.
Das wirtschaftlich dauerkriselnde Italien ist damit überfordert: Es fehlt an Geld, Unterkünften, Integrationskapazitäten. In Sizilien sind die Flüchtlingslager zum Bersten voll. Norditalienische Regionen haben angekündigt, keine Menschen mehr aufzunehmen. Politisch profitieren rechtspopulistische Parteien, wie Kommunalwahlen vergangene Woche gezeigt haben. Vor allem aber steigt die Wut auf die EU, von der sich Italien im Stich gelassen fühlt.
Der Druck aus Italien wächst – nicht nur politisch, auch in Form von Migranten, die sich auf den Weg Richtung Norden machen. Am Brenner, einer der nächsten logischen Anlaufstellen, laufen die Vorbereitungen für ein plötzliches Ansteigen der Grenzübertritte. Noch ist die Lage ruhig, aber die Situation könne sich schnell ändern, heißt es von der Polizei. Mitunter fürchtet man, es könne auch an dieser Grenze zu dramatischen Situationen kommen, wie es sie 2015 etwa im Burgenland oder in der Steiermark gab.
750 Soldaten stehen bereit
Derzeit ist davon allerdings noch nichts zu bemerken. Aktuell zählen die Beamten 15 bis 20 Menschen pro Tag, bzw. 120 bis 130 Aufgriffe pro Woche. Diese Zahlen seien seit Monaten konstant, sagt Tirols Polizeisprecher Manfred Dummer. Die Migranten werden teils sofort nach Italien zurückgewiesen (wenn sie dort schon registriert wurden), andere stellen einen Asylantrag. Auch in Österreich insgesamt ist die Zahl der Asylanträge 2017 laut vorläufiger Statistik (bis Mai) mit rund 2000 Anträgen pro Monat stabil.
Angesichts der Eskalation in Italien sind die Behörden aber äußerst wachsam. Innerhalb von 24 Stunden könne die Kontrollstation am Grenzübergang hochgefahren werden, sagt Dummer. Auch das Bundesheer macht sich für einen Assistenzeinsatz an der Grenze zu Italien bereit: 750 Soldaten stehen seit dem Wochenende dafür bereit. 450 sollen vom Jägerbataillon und der Militärpolizei vom Militärkommando Tirol gestellt werden, der Rest vom Militärkommando Kärnten. Im Falle einer Alarmierung sei die Truppe binnen 72 Stunden einsatzfähig. Bereits am Sonntag hat das Verteidigungsministerium erstes schweres Gerät nach Tirol verlegen lassen, darunter vier Pandur-Radpanzer zum Absperren von Straßen im Grenzgebiet auf dem Brenner.
Wann die Grenzkontrollen hochgefahren werden und flächendeckend kontrolliert wird, ist eine politische Entscheidung. Nach wie vor wird derzeit „auf einem hohen Niveau“im Hinterland, in der Bahn und entlang der grünen Grenze kontrolliert.
Währenddessen wird auf europäischer Ebene beraten, wie man die Situation in Ita- lien entschärfen könnte. Bei einem Krisentreffen am Sonntag in Paris haben sich die Innenminister Deutschlands, Frankreichs und Italiens zwar auf keine neuen europäischen Gesetze geeinigt, aber auf verschärfte Dringlichkeit bei der Stärkung der libyschen Küstenwache, die Sicherung der durchlässigen Südgrenze des nordafrikanischen Landes und die Rückführung von Migranten, die keinen Anspruch auf Asyl haben.
Italien erarbeitet zudem einen Verhaltenskodex für die Hilfsorganisationen, die im Mittelmeer Flüchtlingsboote evakuieren. Aus Kreisen der französischen Diplomatie verlautete am Montag, es gehe dabei darum, dass die Hilfsorganisationen sich dazu verpflichteten, nicht in libysche Hoheitsgewässer zu fahren, um Flüchtlinge so nahe wie möglich von der Küste aufzulesen und in italienische Häfen zu bringen. Zudem müssten die Hilfsgruppen eine Inspektion ihrer Schiffe durch die Küstenwachen Italiens erlauben, um eventuelle Schlepper unter den Migranten entdecken zu können.
Vom in Rom lancierten Ansinnen, dass Schiffe der Hilfsgruppen fortan nicht nur italienische, sondern auch andere EU-Häfen ansteuern sollten, hält man in Paris indes wenig. Vielleicht wird dieser Plan Thema des Krisentreffens am Donnerstag in Rom: Dort treffen Vertreter der EU mit Ministern der wichtigsten Herkunfts- und Transitländer zusammen.