Die Presse

Marsch der Massen nach Istanbul fordert Erdo˘gan heraus

Türkei. Zehntausen­de haben sich dem Protestzug gegen den Präsidente­n angeschlos­sen.

- Von unserer Korrespond­entin SUSANNE GÜSTEN

Istanbul. Sie marschiere­n durch die Gluthitze von 45 Grad über den heißen Asphalt. Sie tragen türkische Fahnen und Schilder mit der Aufschrift „Adalet“– Gerechtigk­eit. Und sie werden immer mehr. Was als belächelte Aktion des türkischen Opposition­sführers Kemal Kilicdaro¸glu˘ vor zwei Wochen in Ankara begonnen hat, hat sich zu einer ernsten Herausford­erung für den machtbewus­sten Präsidente­n, Recep Tayyip Erdogan,˘ gewandelt. Zehntausen­de Menschen marschiere­n inzwischen mit Kilicdaro¸glu˘ auf Istanbul zu.

Kurz nach dem umstritten­en Verfassung­sreferendu­m, bei dem 49 Prozent der Wähler gegen Erdogan˘ stimmten, zeigt Kilicdaro¸glus˘ „Marsch der Gerechtigk­eit“zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit, wie groß die Unzufriede­nheit vieler Türken mit dem Präsidente­n inzwischen ist. Konkreter Anlass für Kilicdaro¸glus˘ Demonstrat­ionszug war die Inhaftieru­ng von Enis Berberoglu,˘ eines Parlaments­abgeordnet­en seiner säkularist­ischen Partei CHP.

Doch inzwischen hat sich der Protest des CHP-Vorsitzend­en zu einer Machtdemon­stration der Erdogan-˘Gegner entwickelt. Der Zulauf wächst jeden Tag. Viele Opposition­spolitiker, Journalist­en, Anwälte, Sportler, Opfer von Polizeigew­alt und normale Bürger haben sich angeschlos­sen.

Laut Demoskopen reicht die Sympathie für den Protest bis in die Anhängersc­haft der Regierungs­partei AKP hinein. Das hindert Erdogan˘ nicht daran, die Teilnehmer des Marsches als Anhänger der kurdischen Untergrund­gruppe PKK und des islamische­n Predigers und angebliche­n Putschiste­nführers des vergangene­n Jahres, Fethullah Gülen, zu verunglimp­fen. Kein Mensch nehme es Kilicdaro¸glu˘ und dessen Kumpanen ab, dass sie für Gerechtigk­eit auf die Straße gingen, schimpfte der Präsident.

Doch Erdogan˘ kann nicht verhindern, dass der lang als farblos und zaghaft kritisiert­e Kilicdaro¸glu˘ mit dem Protestmar­sch an Profil gewinnt. Da ist zum einen die rein physische Leistung des 68-Jährigen, der seit Wochen in der Sommerhitz­e jeden Tag etwa 20 Kilometer zurücklegt und der trotzdem so energiegel­aden wirkt wie nie.

Kilicdaro¸glu˘ selbst ermuntert Vergleiche mit dem friedliche­n Widerstand von Mahatma Gandhi. Der Marsch müsse eine „Mauer“auf dem Weg zur Demokratie über- winden, sagt der CHP-Chef. Kilicdaro¸glus˘ simple Forderung nach Gerechtigk­eit ist ein Dach, unter dem sich viele verschiede­ne Gruppen der sonst hoffnungsl­os zerstritte­nen Opposition sammeln können. Mit dem Marsch sei Kilicdaro¸glu˘ schon jetzt zum Kandidaten der Erdogan-˘Gegner bei der Präsidente­nwahl 2019 geworden, kommentier­te die türkische Zeitung „Milliyet“.

Exberater reihten sich ein

Tatsächlic­h ist der Opposition­schef erstmals in der Lage, sich über alle inhaltlich­en Unterschie­de hinweg als Vertreter aller Unzufriede­nen zu präsentier­en. Er lud sogar die AKP ein, mit ihm zu marschiere­n. Prominente Exberater Erdogans˘ schlossen sich demonstrat­iv dem Demonstrat­ionszug an – ein Zeichen dafür, dass auch im islamischk­onservativ­en Lager viele Zweifel an Erdogans˘ hartem Kurs bestehen.

Die nicht enden wollenden Säuberungs­wellen in Bürokratie, Armee und Justiz seit dem Putschvers­uch vor einem Jahr haben in der Türkei ein Klima der Angst geschaffen, das weit über die direkt betroffene­n 150.000 Entlassene­n und 50.000 Inhaftiert­en und deren Familien hinausreic­ht. Das ist der politisch entscheide­nde Punkt, an dem Kilicdaro¸glu˘ ansetzt. Einmal wirbt er bei seinen täglichen Pressekonf­erenzen für Toleranz im Umgang miteinande­r, einmal prangert er Missstände wie die Rechtlosig­keit von Arbeitern an.

Inzwischen haben die Demonstran­ten mehr als 300 des rund 420 Kilometer langen Weges von Ankara nach Istanbul hinter sich. Ziel ist das Istanbuler Gefängnis Maltepe, in dem Berberoglu˘ einsitzt.

„Türkischer Gandhi“

Für Kilicdaro¸glu˘ stellt sich unterdesse­n die Frage, wie er den Schwung des „Marsches der Gerechtigk­eit“über das Ende der Aktion hinaus bewahren kann.

Der „türkische Gandhi“hat gezeigt, dass er viele Menschen hinter sich bringen kann, und damit viele Erwartunge­n geweckt, die er nun in konkrete Politik umsetzen muss: Der schwierigs­te Abschnitt von Kilicdaro¸glus˘ Weg könnte noch vor ihm liegen.

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