„Kein Weg zurück zum Binnenmarkt“
Interview. Ein Rückbau der EU zu einer rein wirtschaftlich ausgerichteten Zweckgemeinschaft ist weder möglich noch wünschenswert, sagt der deutsche Verfassungsjurist Dieter Grimm.
Die Presse: Sie kritisieren die Rolle des EuGH bei der Gestaltung des europäischen Rechts. Welches Problem haben Sie mit den Luxemburger Höchstrichtern? Dieter Grimm: Der EuGH ist kein Gesetzgebungs-, sondern ein Rechtsprechungsorgan. Er kann das europäische Recht also nur durch Auslegung und Anwendung gestalten. Das hat er allerdings in einer Weise getan, die ihm auch großen Einfluss auf das nationale Recht verschaffte. Die Weichen dazu wurden schon in den frühen 1960er-Jahren gestellt, als der EuGH entschied, dass die Römischen Verträge in den Mitgliedstaaten unmittelbar zur Anwendung kommen, und zwar mit Vorrang vor dem nationalen Recht, selbst vor den nationalen Verfassungen. Darauf konnten sich fortan die Marktteilnehmer berufen, wenn sie im nationalen Recht ein Markthindernis erblickten. Die Verträge wurden dadurch gewissermaßen konstitutionalisiert.
Welche Folgen hatte diese Auslegung durch die Richter? Der EuGH hatte damit die Möglichkeit erlangt, nationales Recht außer Anwendung zu setzen, ohne dass die Mitgliedstaaten darauf noch Einfluss nehmen konnten. Der EuGH war nun in der Lage, die Integration in eigenen Hände zu nehmen. Die Mitgliedstaaten und ihre demokratisch gewählten Regierungen im Rat waren aus dem Spiel, ebenso das Europäische Parlament. Im Laufe der Jahre sind auf diese Weise tiefe Breschen ins nationale Recht geschlagen worden.
Die Kapazität der Nationalstaaten zur Gesetzgebung ist also indirekt eingeschränkt worden. Die Kapazität ist schon durch die Verträge eingeschränkt worden. Die Mitgliedstaaten haben Gesetzgebungsbefugnisse an die EU abgetreten. Die ihnen verbliebenen Befugnisse dürfen sie nicht in einer Weise ausüben, die den Gemeinsamen Markt behindert. Der EuGH hat diese Beschränkungen aber beträchtlich ausgedehnt. Wann ein nationales Gesetz ein Markthindernis darstellt, bestimmt er im Weg der Vertragsauslegung. Kommt er zu dem Ergebnis, dass ein nationales Gesetz den Markt beeinträchtigt, darf es von keinem nationalen Gericht und keiner nationalen Behörde mehr angewendet werden.
Gibt der EuGH in seiner Rechtssprechung eine Richtung vor? Er ist von Anfang an integrationsfreundlich gewesen. Gerade in den Jahren, in denen die Integration politisch nicht vom Fleck kam, hat er sie juristisch vorangetrieben. Tendenziell legt er europäisches Recht weit, nationales Recht dagegen eng aus. Der Spielraum der EU hat sich dadurch erweitert, jener der Mitgliedstaaten verringert.
Das klingt nach Asymmetrie. Die Asymmetrie ergibt sich daraus, dass der EuGH nur die Möglichkeit hat, nationales Recht außer Anwendung zu setzen. Er kann aber die dadurch aufgerissenen Lücken nicht selbst schließen. Dazu bedarf es europäischer Rechtsetzung. Diese ist indes wesentlich schwieriger zu erreichen. Kommission, Rat und Parlament müssen zusammenwirken, während für Ausschaltung nationalen Rechts ein Federstrich des Gerichts genügt. Auf diese Weise kommt ein liberalisierender Grundzug in die Integration, der so von den Mitgliedstaaten in der Regel nicht gewollt ist.
Kann eine Aufwertung des Parlaments diese Lücke schließen? Soweit es um die Auslegung der vom EuGH konstitutionalisierten Verträge geht, können Parlament und Rat daran nichts ändern. Sie stehen nicht über den Verträgen, sondern unter ihnen. Das ganze Ausmaß des Ausschlusses erkennt man freilich erst, wenn man sich klarmacht, dass die Verträge, die nun Verfassungsrang genießen, voll von Bestimmungen sind, die in den Mitgliedstaaten Gesetzesrecht wären. Deswegen könnten sie dort jederzeit im demokratischen Prozess geändert werden. In der EU sind den gesetzgebenden Organen aber die Hände gebunden. Eine Aufwertung des Europaparlaments würde daran nicht das Geringste ändern.
Wir haben über Rat und Parlament gesprochen, aber nicht über die Kommission. Wie beurteilen Sie ihre Performance? Die Kommission soll die vertraglich vereinbarten Ziele der EU durchsetzen. Für die Konkretisierung der Ziele und das Ausmaß und Tempo der Integration ist der Europäische Rat zuständig. Die Festlegung der Politiken ist Sache des Ministerrats. Die Kommission ist nicht die Regierung der EU. Für eine politische Kommission, wie sie ihr Präsident Juncker wünscht, ist also wenig Platz
Die Kommission hat mehrere Szenarien für die Zukunft der EU entworfen, die Bandbreite reicht von ausschließlicher Fokussierung auf den Binnenmarkt bis hin zu den Vereinigten Staaten von Europa. Unter welchem Szenario ließen sich die demokratiepolitischen Ungleichgewichte am besten reduzieren? Zu einem reinen Binnenmarkt führt kein Weg zurück. Die Probleme, die Nationalstaaten im Alleingang lösen können, werden immer weniger, die nur auf überstaatlicher Ebene lösbaren Herausforderungen nehmen zu. Andererseits führt aber auch kein Weg in Richtung eines europäischen Staates.
Warum nicht? Ein solches Gebilde bliebe weit hinter den demokratischen Standards zurück, die ein Staat benötigt. In Europa fehlt es an den gesellschaftlichen Voraussetzungen einer lebendigen Demokratie. Insbesondere gibt es keinen europaweiten politischen Diskurs, in dem sich die Unionsbürger über Richtung, Ausmaß und Tempo der Integration verständigen könnten. Es gibt nur 28 nationale Diskurse über Europafragen. Die Umwandlung der EU in einen Staat würde das Legitimationsdefizit daher erhöhen, statt es zu senken. Es sollte also bei dem innovativen Gebilde zwischen einer internationalen Organisation und einem Bundesstaat bleiben. Aber dieses Gebilde müsste die Akzeptanzprobleme lösen, die das Integrationsprojekt bedrohen, und dazu gehört vor allem, dass Entscheidungen von hohem politischen Gewicht politisch und nicht wie großenteils jetzt gerichtlich getroffen werden.