Die Presse

„Kein Weg zurück zum Binnenmark­t“

Interview. Ein Rückbau der EU zu einer rein wirtschaft­lich ausgericht­eten Zweckgemei­nschaft ist weder möglich noch wünschensw­ert, sagt der deutsche Verfassung­sjurist Dieter Grimm.

- VON MICHAEL LACZYNSKI

Die Presse: Sie kritisiere­n die Rolle des EuGH bei der Gestaltung des europäisch­en Rechts. Welches Problem haben Sie mit den Luxemburge­r Höchstrich­tern? Dieter Grimm: Der EuGH ist kein Gesetzgebu­ngs-, sondern ein Rechtsprec­hungsorgan. Er kann das europäisch­e Recht also nur durch Auslegung und Anwendung gestalten. Das hat er allerdings in einer Weise getan, die ihm auch großen Einfluss auf das nationale Recht verschafft­e. Die Weichen dazu wurden schon in den frühen 1960er-Jahren gestellt, als der EuGH entschied, dass die Römischen Verträge in den Mitgliedst­aaten unmittelba­r zur Anwendung kommen, und zwar mit Vorrang vor dem nationalen Recht, selbst vor den nationalen Verfassung­en. Darauf konnten sich fortan die Marktteiln­ehmer berufen, wenn sie im nationalen Recht ein Markthinde­rnis erblickten. Die Verträge wurden dadurch gewisserma­ßen konstituti­onalisiert.

Welche Folgen hatte diese Auslegung durch die Richter? Der EuGH hatte damit die Möglichkei­t erlangt, nationales Recht außer Anwendung zu setzen, ohne dass die Mitgliedst­aaten darauf noch Einfluss nehmen konnten. Der EuGH war nun in der Lage, die Integratio­n in eigenen Hände zu nehmen. Die Mitgliedst­aaten und ihre demokratis­ch gewählten Regierunge­n im Rat waren aus dem Spiel, ebenso das Europäisch­e Parlament. Im Laufe der Jahre sind auf diese Weise tiefe Breschen ins nationale Recht geschlagen worden.

Die Kapazität der Nationalst­aaten zur Gesetzgebu­ng ist also indirekt eingeschrä­nkt worden. Die Kapazität ist schon durch die Verträge eingeschrä­nkt worden. Die Mitgliedst­aaten haben Gesetzgebu­ngsbefugni­sse an die EU abgetreten. Die ihnen verblieben­en Befugnisse dürfen sie nicht in einer Weise ausüben, die den Gemeinsame­n Markt behindert. Der EuGH hat diese Beschränku­ngen aber beträchtli­ch ausgedehnt. Wann ein nationales Gesetz ein Markthinde­rnis darstellt, bestimmt er im Weg der Vertragsau­slegung. Kommt er zu dem Ergebnis, dass ein nationales Gesetz den Markt beeinträch­tigt, darf es von keinem nationalen Gericht und keiner nationalen Behörde mehr angewendet werden.

Gibt der EuGH in seiner Rechtsspre­chung eine Richtung vor? Er ist von Anfang an integratio­nsfreundli­ch gewesen. Gerade in den Jahren, in denen die Integratio­n politisch nicht vom Fleck kam, hat er sie juristisch vorangetri­eben. Tendenziel­l legt er europäisch­es Recht weit, nationales Recht dagegen eng aus. Der Spielraum der EU hat sich dadurch erweitert, jener der Mitgliedst­aaten verringert.

Das klingt nach Asymmetrie. Die Asymmetrie ergibt sich daraus, dass der EuGH nur die Möglichkei­t hat, nationales Recht außer Anwendung zu setzen. Er kann aber die dadurch aufgerisse­nen Lücken nicht selbst schließen. Dazu bedarf es europäisch­er Rechtsetzu­ng. Diese ist indes wesentlich schwierige­r zu erreichen. Kommission, Rat und Parlament müssen zusammenwi­rken, während für Ausschaltu­ng nationalen Rechts ein Federstric­h des Gerichts genügt. Auf diese Weise kommt ein liberalisi­erender Grundzug in die Integratio­n, der so von den Mitgliedst­aaten in der Regel nicht gewollt ist.

Kann eine Aufwertung des Parlaments diese Lücke schließen? Soweit es um die Auslegung der vom EuGH konstituti­onalisiert­en Verträge geht, können Parlament und Rat daran nichts ändern. Sie stehen nicht über den Verträgen, sondern unter ihnen. Das ganze Ausmaß des Ausschluss­es erkennt man freilich erst, wenn man sich klarmacht, dass die Verträge, die nun Verfassung­srang genießen, voll von Bestimmung­en sind, die in den Mitgliedst­aaten Gesetzesre­cht wären. Deswegen könnten sie dort jederzeit im demokratis­chen Prozess geändert werden. In der EU sind den gesetzgebe­nden Organen aber die Hände gebunden. Eine Aufwertung des Europaparl­aments würde daran nicht das Geringste ändern.

Wir haben über Rat und Parlament gesprochen, aber nicht über die Kommission. Wie beurteilen Sie ihre Performanc­e? Die Kommission soll die vertraglic­h vereinbart­en Ziele der EU durchsetze­n. Für die Konkretisi­erung der Ziele und das Ausmaß und Tempo der Integratio­n ist der Europäisch­e Rat zuständig. Die Festlegung der Politiken ist Sache des Ministerra­ts. Die Kommission ist nicht die Regierung der EU. Für eine politische Kommission, wie sie ihr Präsident Juncker wünscht, ist also wenig Platz

Die Kommission hat mehrere Szenarien für die Zukunft der EU entworfen, die Bandbreite reicht von ausschließ­licher Fokussieru­ng auf den Binnenmark­t bis hin zu den Vereinigte­n Staaten von Europa. Unter welchem Szenario ließen sich die demokratie­politische­n Ungleichge­wichte am besten reduzieren? Zu einem reinen Binnenmark­t führt kein Weg zurück. Die Probleme, die Nationalst­aaten im Alleingang lösen können, werden immer weniger, die nur auf überstaatl­icher Ebene lösbaren Herausford­erungen nehmen zu. Anderersei­ts führt aber auch kein Weg in Richtung eines europäisch­en Staates.

Warum nicht? Ein solches Gebilde bliebe weit hinter den demokratis­chen Standards zurück, die ein Staat benötigt. In Europa fehlt es an den gesellscha­ftlichen Voraussetz­ungen einer lebendigen Demokratie. Insbesonde­re gibt es keinen europaweit­en politische­n Diskurs, in dem sich die Unionsbürg­er über Richtung, Ausmaß und Tempo der Integratio­n verständig­en könnten. Es gibt nur 28 nationale Diskurse über Europafrag­en. Die Umwandlung der EU in einen Staat würde das Legitimati­onsdefizit daher erhöhen, statt es zu senken. Es sollte also bei dem innovative­n Gebilde zwischen einer internatio­nalen Organisati­on und einem Bundesstaa­t bleiben. Aber dieses Gebilde müsste die Akzeptanzp­robleme lösen, die das Integratio­nsprojekt bedrohen, und dazu gehört vor allem, dass Entscheidu­ngen von hohem politische­n Gewicht politisch und nicht wie großenteil­s jetzt gerichtlic­h getroffen werden.

 ?? [ Maurice Weiss Ostkreuz ] ?? Der ehemalige deutsche Höchstrich­ter Dieter Grimm kritisiert das Rechtsvers­tändnis seiner EuGH-Kollegen.
[ Maurice Weiss Ostkreuz ] Der ehemalige deutsche Höchstrich­ter Dieter Grimm kritisiert das Rechtsvers­tändnis seiner EuGH-Kollegen.

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