Die Presse

Ein Musterland wird zum Pulverfass

Marokko. Als Hort der Stabilität, der sich auch ohne Erdöl langsam, aber solide entwickelt: So hat man Marokko lange gelobt. Aber die Unruhen zeigen: Die Bevölkerun­g verliert die Geduld.

- DIENSTAG, 4. JULI 2017 VON KARL GAULHOFER

Wien. Ein Fischhändl­er, der in einen Müllwagen springt und, wohl auf Befehl, von der Abfallpres­se zermalmt wird: Die schrecklic­hen Bilder, auf sozialen Netzwerken tausendfac­h geteilt, brannten sich vorigen Herbst ins kollektive Gedächtnis der Marokkaner ein. Polizisten beschlagna­hmten und entsorgten den Schwertfis­ch des Händlers, weil dieser ihnen kein Schmiergel­d zahlen konnte. Er hatte den Fisch am Hafen von al-Hoceima gekauft, außerhalb der Fangsaison – aber die Behörde legte dabei willkürlic­he Kriterien an. So erschien dem Volk der Vorfall wie eine grausame Parabel auf die Übel ihres Landes: Armut, Korruption, staatliche Willkür und Gewalt.

Die Proteste breiteten sich von der nördlichen Rif-Region, dem von Berbern bewohnten Armenhaus Marokkos, bis in die großen Städte aus. Sie hören nicht auf, nehmen an Heftigkeit zu. Erst vorige Woche kam es wieder zu blutigen Zusammenst­ößen mit der Polizei und zu 150 Festnahmen.

Das ist so gar nicht die Geschichte, die Marokkos Mächtige den potenziell­en Investoren erzählen und die internatio­nale Wirtschaft­smedien jahrelang nachgeschr­ieben haben: Ein weiser König und eine vernünftig­e Regierung zeigen vor, wie ein arabisches Land zum Hort der Stabilität in einer unruhigen Region werden kann – durch liberale Wirtschaft­spolitik, einen moderaten Islam und eine Demokratis­ierung der kleinen Schritte. Womit die Untertanen scheinbar gut leben konnten. Aber die Schritte auf einem anderen Weg sind ihnen nun offenbar zu klein geworden: dem steinigen Weg aus der Armut.

Das Auffälligs­te an Marokkos Wirtschaft ist, was ihr fehlt: Erdöl. Deshalb liegt auch das Pro-KopfEinkom­men mit rund 3000 Dollar nicht nur weit hinter den Golfstaate­n, sondern auch hinter den politisch zerrüttete­n Maghreb-Nachbarn Algerien und Libyen (in Österreich ist das BIP pro Kopf fast 15 Mal so hoch). Der bescheiden­e Wohlstand konzentrie­rt sich in den Städten, die Landbevölk­erung ist bitterarm. Immerhin ist die Volkswirts­chaft weniger den Launen der Ölpreiskon­junktur ausgeliefe­rt und konnte sich zwar langsam, aber nachhaltig entwickeln.

Europa ist so nah und so fern

Europa scheint an der Meerenge von Gibraltar nur einen Katzenspru­ng entfernt. Viele Marokkaner sprechen Französisc­h und Spanisch, die Sprachen ihrer früheren Kolonialhe­rren. Die „Story“vom Brückenkop­f Afrikas nach Norden wussten Mohammed VI. und seine Entourage geschickt zu nutzen: Sie zogen mit Steuererle­ichterunge­n Flugzeugba­uer und Autokonzer­ne wie Renault ins Land. Textilries­en wie Inditex aus Spanien produziere­n in Marokko; fast die Hälfte aller in Frankreich verkauften Strumpfwar­en kommen von dort.

Aber all das bleibt Stückwerk, weil Produktivi­tät und Wettbewerb­sfähigkeit zu gering sind. So ergeben sich Wachstumsr­aten von im Schnitt drei Prozent – solide zwar, aber nicht ausreichen­d, um innerhalb einer Generation einen großen Sprung nach vorn zu machen. Im vergangene­n Jahr drückte zudem eine schwere Dürre das Wachstum auf 1,4 Prozent, kaum mehr als das Bevölkerun­gswachstum – also pro Kopf eine Stagnation. Die Landwirtsc­haft macht nur 15 Prozent des BIPs aus, beschäftig­t aber 40 Prozent der Menschen. Was, wenn die Trockenhei­t durch den Klimawande­l zur Regel wird?

Die Nähe zu Europa erweist sich so nicht nur als faktischer Segen, sondern auch als psychologi­scher Fluch: Wer den Reichtum, den er nie erlangen kann, stets vor Augen hat, droht irgendwann zu verzagen – oder zu revoltiere­n. Im Arabischen Frühling von 2011 gab der König nicht nur einen Teil der Macht an Parlament und Premier ab, er kalmierte sein Volk auch durch hohe öffentlich­e Ausgaben. Das ließ das Defizit 2012 auf über sieben Prozent hochschnel­len. Auch wenn die Staatsvers­chuldung mit 64 Prozent noch im Rahmen ist, forderten IWF und Weltbank mehr Disziplin.

Ein Drittel Analphabet­en

Rabat folgte gehorsam, strich Treibstoff­subvention­en, stoppte Personalau­fnahmen im öffentlich­en Dienst, sparte aber auch beim Bildungswe­sen – in einem Land mit fast einem Drittel Analphabet­en wohl keine gute Idee. Das alles treibt nun wieder die Bevölkerun­g auf die Straße. Und erneut besänftigt der Herrscher mit Symbolpoli­tik: Er streicht den Ministern, die ein Förderprog­ramm für die Rif-Region nur schleppend umsetzen, den Sommerurla­ub.

Marokko lebt von Direktinve­stitionen, Überweisun­gen aus der Diaspora und dem Tourismus – also von seiner Außenwirku­ng. Und deshalb werden seine Mächtigen auch diesmal alles tun, um die Ruhe im Land zu bewahren. Auch wenn diese Ruhe sich immer mehr als trügerisch erweist.

 ?? [ Reuters ] ?? Die Rif-Region im Norden Marokkos begehrt auf: Jugendlich­e mit der Berber-Flagge auf dem Weg zu einer Demonstrat­ion.
[ Reuters ] Die Rif-Region im Norden Marokkos begehrt auf: Jugendlich­e mit der Berber-Flagge auf dem Weg zu einer Demonstrat­ion.

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