Ein Musterland wird zum Pulverfass
Marokko. Als Hort der Stabilität, der sich auch ohne Erdöl langsam, aber solide entwickelt: So hat man Marokko lange gelobt. Aber die Unruhen zeigen: Die Bevölkerung verliert die Geduld.
Wien. Ein Fischhändler, der in einen Müllwagen springt und, wohl auf Befehl, von der Abfallpresse zermalmt wird: Die schrecklichen Bilder, auf sozialen Netzwerken tausendfach geteilt, brannten sich vorigen Herbst ins kollektive Gedächtnis der Marokkaner ein. Polizisten beschlagnahmten und entsorgten den Schwertfisch des Händlers, weil dieser ihnen kein Schmiergeld zahlen konnte. Er hatte den Fisch am Hafen von al-Hoceima gekauft, außerhalb der Fangsaison – aber die Behörde legte dabei willkürliche Kriterien an. So erschien dem Volk der Vorfall wie eine grausame Parabel auf die Übel ihres Landes: Armut, Korruption, staatliche Willkür und Gewalt.
Die Proteste breiteten sich von der nördlichen Rif-Region, dem von Berbern bewohnten Armenhaus Marokkos, bis in die großen Städte aus. Sie hören nicht auf, nehmen an Heftigkeit zu. Erst vorige Woche kam es wieder zu blutigen Zusammenstößen mit der Polizei und zu 150 Festnahmen.
Das ist so gar nicht die Geschichte, die Marokkos Mächtige den potenziellen Investoren erzählen und die internationale Wirtschaftsmedien jahrelang nachgeschrieben haben: Ein weiser König und eine vernünftige Regierung zeigen vor, wie ein arabisches Land zum Hort der Stabilität in einer unruhigen Region werden kann – durch liberale Wirtschaftspolitik, einen moderaten Islam und eine Demokratisierung der kleinen Schritte. Womit die Untertanen scheinbar gut leben konnten. Aber die Schritte auf einem anderen Weg sind ihnen nun offenbar zu klein geworden: dem steinigen Weg aus der Armut.
Das Auffälligste an Marokkos Wirtschaft ist, was ihr fehlt: Erdöl. Deshalb liegt auch das Pro-KopfEinkommen mit rund 3000 Dollar nicht nur weit hinter den Golfstaaten, sondern auch hinter den politisch zerrütteten Maghreb-Nachbarn Algerien und Libyen (in Österreich ist das BIP pro Kopf fast 15 Mal so hoch). Der bescheidene Wohlstand konzentriert sich in den Städten, die Landbevölkerung ist bitterarm. Immerhin ist die Volkswirtschaft weniger den Launen der Ölpreiskonjunktur ausgeliefert und konnte sich zwar langsam, aber nachhaltig entwickeln.
Europa ist so nah und so fern
Europa scheint an der Meerenge von Gibraltar nur einen Katzensprung entfernt. Viele Marokkaner sprechen Französisch und Spanisch, die Sprachen ihrer früheren Kolonialherren. Die „Story“vom Brückenkopf Afrikas nach Norden wussten Mohammed VI. und seine Entourage geschickt zu nutzen: Sie zogen mit Steuererleichterungen Flugzeugbauer und Autokonzerne wie Renault ins Land. Textilriesen wie Inditex aus Spanien produzieren in Marokko; fast die Hälfte aller in Frankreich verkauften Strumpfwaren kommen von dort.
Aber all das bleibt Stückwerk, weil Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit zu gering sind. So ergeben sich Wachstumsraten von im Schnitt drei Prozent – solide zwar, aber nicht ausreichend, um innerhalb einer Generation einen großen Sprung nach vorn zu machen. Im vergangenen Jahr drückte zudem eine schwere Dürre das Wachstum auf 1,4 Prozent, kaum mehr als das Bevölkerungswachstum – also pro Kopf eine Stagnation. Die Landwirtschaft macht nur 15 Prozent des BIPs aus, beschäftigt aber 40 Prozent der Menschen. Was, wenn die Trockenheit durch den Klimawandel zur Regel wird?
Die Nähe zu Europa erweist sich so nicht nur als faktischer Segen, sondern auch als psychologischer Fluch: Wer den Reichtum, den er nie erlangen kann, stets vor Augen hat, droht irgendwann zu verzagen – oder zu revoltieren. Im Arabischen Frühling von 2011 gab der König nicht nur einen Teil der Macht an Parlament und Premier ab, er kalmierte sein Volk auch durch hohe öffentliche Ausgaben. Das ließ das Defizit 2012 auf über sieben Prozent hochschnellen. Auch wenn die Staatsverschuldung mit 64 Prozent noch im Rahmen ist, forderten IWF und Weltbank mehr Disziplin.
Ein Drittel Analphabeten
Rabat folgte gehorsam, strich Treibstoffsubventionen, stoppte Personalaufnahmen im öffentlichen Dienst, sparte aber auch beim Bildungswesen – in einem Land mit fast einem Drittel Analphabeten wohl keine gute Idee. Das alles treibt nun wieder die Bevölkerung auf die Straße. Und erneut besänftigt der Herrscher mit Symbolpolitik: Er streicht den Ministern, die ein Förderprogramm für die Rif-Region nur schleppend umsetzen, den Sommerurlaub.
Marokko lebt von Direktinvestitionen, Überweisungen aus der Diaspora und dem Tourismus – also von seiner Außenwirkung. Und deshalb werden seine Mächtigen auch diesmal alles tun, um die Ruhe im Land zu bewahren. Auch wenn diese Ruhe sich immer mehr als trügerisch erweist.