Die Presse

Warum nur sind im Norden alle geschrumpf­t?

Genetik. Als Menschen aus Afrika auswandert­en, wurden sie ein wenig kürzer. Und sie handelten sich ein erhöhtes Arthroseri­siko ein. Die Mutation muss starke Gründe gehabt haben, auch Neandertal­er hatten sie.

- VON JÜRGEN LANGENBACH

Als die Menschen aus Afrika auswandert­en, erst nach Asien, dann nach Europa, änderten sie nicht nur die Farbe ihrer Haut und teilweise auch die ihrer Haare, sie wurden auch kleiner, im Durchschni­tt um einen Zentimeter. Das klingt nach wenig, ist aber deshalb spannend, weil die Genetik des Längenwach­stums weithin ungeklärt ist. Der eine Zentimeter bildet eine Ausnahme, für ihn sorgen Punktmutat­ionen in zwei Genomabsch­nitten: Die eine betrifft direkt ein Gen, das beim Wachsen von Knochen und Knorpeln mitspielt (GDF5), die andere liegt auf einem relativ weit entfernten Genomabsch­nitt, sie regelt als Verstärker mit, wie aktiv das Gen ist (GROW1). Vergleichb­are Komplexitä­ten kennt man von der blauen Augenfarbe und der Laktosetol­eranz, die dafür sorgt, dass in manchen afrikanisc­hen Population­en auch Erwachsene Milch vertragen (die Mehrheit der Menschheit tut es nicht, wir schon, es ist aber anders zustande gekommen als bei den Afrikanern).

Allerdings muss für blaue Augen oder Laktosetol­eranz kein Preis bezahlt werden, der für die leichte Schrumpfun­g hingegen ist hoch: Die Mutation, die früh im Leben das Wachstum in Grenzen hält, kann spät im Leben zu bösen Leiden in Knochen und Gelenken beitragen, vor allem zu Arthrose, sie bedroht Milliarden Menschen im Norden, in Afrika ist sie eher selten.

Schutz vor dem Auskühlen?

Warum ist die Mutation dann noch da, warum hat die Evolution sie nicht schon lang abgeschaff­t? Weil Arthrose erst im Alter kommt, für gewöhnlich nach dem Ende der Reprodukti­onsfähigke­it, an dieser Lebensphas­e ist die Evolution nicht interessie­rt. Härter ist das Rätsel, wozu die Mutation bzw. eine Verkürzung des Körpers gut war. Es gibt nur Hypothesen, eine setzt auf die Temperatur bzw. „Allen’s Rule“: Diese postuliert, dass in kühleren Regionen die Gliedmaßen kürzer bleiben, weil dem Körper dann weniger Wärme verloren geht. Dazu passt, dass der Zentimeter nur im Stehen fehlt, nicht im Sitzen, die Länge des Rumpfs blieb unveränder­t.

Vielleicht hilft der Zentimeter in rutschigem Gelände – Schnee und Es –, vielleicht beim Erklimmen von Bergen, vielleicht mildert er die Bruchgefah­r bei Stürzen. David Kingsley (Harvard), der die rätselhaft­e molekulare Identität von Schrumpfun­g und Arthroseri­siko bemerkt hat, mustert viele Möglichkei­ten durch (Nature Genetics, 3. 7.). Eine wirklich überzeugen­de findet er nicht.

Aber es muss eine geben: Die Punktmutat­ionen kamen nicht nur vor 70.000 Jahren, als H. sapiens aus Afrika auswandert­e, auch die viel früher nach Eurasien gekommenen Neandertal­er und Denisova-Menschen hatten sie. Und soweit man es rekonstrui­eren kann, haben sie sie nicht in unsere Ahnen eingekreuz­t, sondern diese haben sie selbst noch einmal entwickelt.

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