Die Presse

Der schwarze Riese unter Graugänsen

1991 dozierte Helmut Kohl an der Konrad-LorenzFors­chungsstel­le stundenlan­g über Friedrich den Großen.

- Kurt Kotrschal ist Zoologe an der Uni Wien und Leiter der Konrad-Lorenz-Forschungs­stelle in Grünau. E-Mails an: debatte@diepresse.com

E s goss aus Kübeln Ende Juli 1991. Heftigster Schnürlreg­en verwandelt­e die Schotterfl­ächen um die Konrad-Lorenz-Forschungs­stelle in Grünau in einen dünnen Morast aus Gänsekot. Vom Gefieder der Urheber perlte das Wasser. Das Klingeln des Telefons unterbrach die feuchte Tristesse des frühen Vormittags. Unser Dorfgendar­m teilte mir mittels Amtsdeutsc­h in leidlich beherrscht­er Aufregung mit, dass uns demnächst Helmut Kohl besuchen würde. Jener Helmut Kohl, der es von 1989 bis 1990 in atemberaub­endem Tempo geschafft hatte, die beiden Deutschlan­ds wieder zusammenzu­führen! Durch Initiative, Verhandlun­gen und Abkommen übrigens, nicht durch militärisc­he Stärke.

Helmut Kohl wurde am 1. Juli im Dom zu Speyer neben Heinrich V., Beatrix von Burgund, Rudolf von Habsburg, Adolf von Nassau und Albrecht von Österreich grabgelegt, da wäre es wohl angemessen, die kleinkräme­rische Rede von den Kosten der Wiedervere­inigung gleich mitzubegra­ben. Freilich: In Wirklichke­it war es eine Annexion des Ostens durch den Westen. Aber die Weltgeschi­chte ist bekanntlic­h kein Ponyhof.

Dieser Helmut Kohl besuchte uns, weil er sich offenbar langweilte, in seinem verregnete­n St. Gilgner Urlaubsdom­izil. Die „Security“in Form des Dorfgendar­men war bereits im Zivil seiner schwarzen Lederjacke unauffälli­g in unserer Bibliothek verschwund­en, als sich über die geflutete Schotterst­raße ein grauer Mittelklas­se-Pkw näherte. Am Steuer der St. Gilgner Freund von Helmut Kohl. Sekunden später entwand sich dem Auto ein in seinen Ausmaßen gigantisch­er Mann in korrektem Freizeitan­zug und entspannte seinen gigantisch­en schwarzen Regenschir­m.

Es folgte ein kapitaler protokolla­rischer und verhaltens­biologisch­er Fehler meinerseit­s. Da ich fürchtete, Herrn Kohl mit meinem Schirm unter Wasser zu setzen, begab ich mich stattdesse­n mit einem Sprung unter seinen Schirm. Hände schütteln, aber zur verbalen Begrüßung kam ich nicht mehr. Weit über mir dröhnte es im wohlbekann­ten pfälzische­n Bass: „Junger Mann, haben Sie denn keinen Schirm?“Ich hatte seine Individual­distanz gehörig unterschri­tten, und er reagierte angemessen und ansatzlos. Es dämmerte mir, wie das wohl funktionie­rt haben mag mit der deutschen Wiedervere­inigung.

Es folgte eine kleine Führung, Forschungs­stelle, Lorenz und Gänse, gelegentli­ch unterbroch­en, durch Helmut Kohls Anmerkunge­n über das Aufwachsen Friedrichs des Großen und dadurch, dass er bald wieder wegmüsse. Nun ja, eine Einladung zum Kaffee (nervös vorgekoste­t vom Dorfgendar­men . . .) in der alten Bibliothek wurde zögernd angenommen. Helmut Kohl dozierte nun vor vier Leuten über Friedrich den Großen. Geschichts­privatissi­mum mit dem mächtigste­n Mann Europas, sozusagen.

Es folgte die erste Flasche unseres exzellente­n Chardonnay­s, übrigens vom Weingut Haider in Podersdorf. Nach einer zweiten Flasche und zweieinhal­b Stunden Plaudern blies man zum Aufbruch. Ich nehme an, das Mittagesse­n rief. Vierzehn Tage später kam Kohl wieder, wie versproche­n bei Sonnensche­in, mit Ehefrau, samt Sicherheit­sentourage und Repräsenta­nten aus Politik und Uni. Dass die Kohls den Schokolade­kuchen meiner aus Gießen stammenden Schwiegerm­utter verputzt hatten, gefiel dieser übrigens sehr. Das war es dann mit der großen Politik an der Forschungs­stelle; bis heute besuchten uns weder die Präsidente­n der USA noch jene Russlands.

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VON KURT KOTRSCHAL

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