Die Lady hat wenig Sex in Reichenau
Festspiele. Der Porno-Bestseller von D. H. Lawrence geriet keusch, aber prägnant. Der Brite John Lloyd Davies zeichnet ein Sittenbild seiner Heimat mit Brexit-Bezug. Katharina Straßer brilliert als leidenschaftliche, emanzipierte und moderne Frau.
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Die Deutschen sind schuld!“, „Die Bolschewiken sind schuld!“, „Der Krieg ist schuld!“Drei Herren diskutieren im Club. Zuvor sieht man Soldaten salutieren und hernach im Geschützfeuer niederstürzen. In zwei kurzen Szenen zu Beginn von „Lady Chatterley“im Theater Reichenau wird politisch bis heute Geläufiges von der „Insel“behandelt: Weltumspannendes strategisches Denken, Isolationismus, harte Wehrhaftigkeit. Der Brite John Lloyd Davies hat den Roman von 1928 inszeniert, sein Landsmann D. H. Lawrence beschreibt darin England nach dem I. Weltkrieg.
Trotz des Sieges sind die Menschen an Leib und Seele beschädigt, die Landschaft ist verwahrlost, die Tierwelt geplündert (Jagdwild wurde abgeschossen und muss erst mühsam nachgezogen werden), das soziale Gefüge hat einen Stoß bekommen (einfache Leute wurden Offiziere und nehmen nach ihrer Rückkehr die enormen Standesunterschiede nicht mehr widerspruchslos hin). Die Industrie ist im Umbruch. Der Strom löst die Kohle ab, er bietet mehr und vielfältigere Anwendungsmöglichkeiten.
Lawrence war ein Frauenkenner
Bergmannssohn D. H. Lawrence, der mit 44 Jahren an Tuberkulose starb, verursachte mit „Lady Chatterley“einen Skandal. So poetisch wie detailliert schilderte er viele Seiten lang Sexualakte. Heute überrascht vor allem, wie genau Lawrence die weibliche Empfindungswelt kannte, vielleicht, weil er lang und glücklich verheiratet war.
Die Aufführung in Reichenau gibt sich im Vergleich zum Buch keusch. Man könnte meinen, weil dem Reichenauer Publikum ein Porno nicht zuzumuten sei. Indes, man kennt genügend peinlichen Bühnensex – und ist froh, dieses heikle Thema diskret und ästhetisch abgehandelt zu sehen. Katharina Straßer ist als Lady fantastisch, ein Typus, ein Charakter und eine Geschichte, eingekleidet in Rot und Weiß, anfangs schön, am Ende zerrupft von den Realitäten.
Lady Chatterley, die mit ihrer Schwester Hilda materiell gut versorgt und frei aufgewachsen ist, auch früh sexuelle Erfahrungen sammeln konnte, macht eine gute Partie. Die Bürgerliche heiratet einen Adeligen. Sir Clifford aber wird im I. Weltkrieg schwer verletzt. Impotent und im Rollstuhl kehrt er heim – und empfiehlt seiner Frau, sich einen Liebhaber zu suchen, um einen Erben für seinen Besitz zu beschaffen. Die ausgehungerte Lady wirft sich dem attraktiven Wildhüter Mellors in die Arme, sie wird tatsächlich schwanger, aber ansonsten nehmen die Dinge einen gänzlich anderen Verlauf als es sich Sir Clifford vorgestellt hat.
Tobias Voigt ist grandios als Adeliger mit der sprichwörtlichen „Stiff Upper Lip“. Angesichts des Schicksals seiner Verstümmelung bewahrt er Haltung, aber dass seine Frau ihr Wort bricht, kann er nicht fassen. Wirklich verbunden ist er mit seiner Pflegerin (Michou Friesz ist hinreißend, wiewohl das Gegenteil der maskulinen Matrone, die sie sein sollte). Lukas Spisser überzeugt als wortkarger, aber kluger und sensibler Wildhüter, ein stattliches Mannsbild. Johanna Arrouas erfreut als Lady Chatterleys hantige, klassenbewusste Schwester Hilda. Und ganz besonders köstlich sind die drei Herren im Club, an der Spitze Brigadegeneral Tommy Dukes (herrlich verschmitzt: Andre´ Pohl).
In England gehen die Uhren anders
Die Aufführung wirkt trotz ihres Herumkurvens um die wichtigste Sache der Welt sehr romantisch, manchen mag sie schwülstig vorkommen, aber dies ist auch eine schwülstige Geschichte. Ironie fehlt, das ist richtig so. Denn hier geht es um Menschen, die schmerzvoll an die Grenzen ihrer fest gefügten Anschauungen stoßen bzw. im Falle von Lady Chatterley in eine existenzielle Krise geraten, weil sie das, was sie sich vorgenommen haben, sich zu fügen, nicht schaffen. Vor allem zeigt Davies eine herrliche Satire seiner Landsleute, die sagt: In Großbritannien gehen die Uhren anders – und öfter bleiben sie auch mal stehen. Insgesamt: Ein großartiges Theatererlebnis.