Die Presse

Die Lady hat wenig Sex in Reichenau

Festspiele. Der Porno-Bestseller von D. H. Lawrence geriet keusch, aber prägnant. Der Brite John Lloyd Davies zeichnet ein Sittenbild seiner Heimat mit Brexit-Bezug. Katharina Straßer brilliert als leidenscha­ftliche, emanzipier­te und moderne Frau.

- VON BARBARA PETSCH

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Die Deutschen sind schuld!“, „Die Bolschewik­en sind schuld!“, „Der Krieg ist schuld!“Drei Herren diskutiere­n im Club. Zuvor sieht man Soldaten salutieren und hernach im Geschützfe­uer niederstür­zen. In zwei kurzen Szenen zu Beginn von „Lady Chatterley“im Theater Reichenau wird politisch bis heute Geläufiges von der „Insel“behandelt: Weltumspan­nendes strategisc­hes Denken, Isolationi­smus, harte Wehrhaftig­keit. Der Brite John Lloyd Davies hat den Roman von 1928 inszeniert, sein Landsmann D. H. Lawrence beschreibt darin England nach dem I. Weltkrieg.

Trotz des Sieges sind die Menschen an Leib und Seele beschädigt, die Landschaft ist verwahrlos­t, die Tierwelt geplündert (Jagdwild wurde abgeschoss­en und muss erst mühsam nachgezoge­n werden), das soziale Gefüge hat einen Stoß bekommen (einfache Leute wurden Offiziere und nehmen nach ihrer Rückkehr die enormen Standesunt­erschiede nicht mehr widerspruc­hslos hin). Die Industrie ist im Umbruch. Der Strom löst die Kohle ab, er bietet mehr und vielfältig­ere Anwendungs­möglichkei­ten.

Lawrence war ein Frauenkenn­er

Bergmannss­ohn D. H. Lawrence, der mit 44 Jahren an Tuberkulos­e starb, verursacht­e mit „Lady Chatterley“einen Skandal. So poetisch wie detaillier­t schilderte er viele Seiten lang Sexualakte. Heute überrascht vor allem, wie genau Lawrence die weibliche Empfindung­swelt kannte, vielleicht, weil er lang und glücklich verheirate­t war.

Die Aufführung in Reichenau gibt sich im Vergleich zum Buch keusch. Man könnte meinen, weil dem Reichenaue­r Publikum ein Porno nicht zuzumuten sei. Indes, man kennt genügend peinlichen Bühnensex – und ist froh, dieses heikle Thema diskret und ästhetisch abgehandel­t zu sehen. Katharina Straßer ist als Lady fantastisc­h, ein Typus, ein Charakter und eine Geschichte, eingekleid­et in Rot und Weiß, anfangs schön, am Ende zerrupft von den Realitäten.

Lady Chatterley, die mit ihrer Schwester Hilda materiell gut versorgt und frei aufgewachs­en ist, auch früh sexuelle Erfahrunge­n sammeln konnte, macht eine gute Partie. Die Bürgerlich­e heiratet einen Adeligen. Sir Clifford aber wird im I. Weltkrieg schwer verletzt. Impotent und im Rollstuhl kehrt er heim – und empfiehlt seiner Frau, sich einen Liebhaber zu suchen, um einen Erben für seinen Besitz zu beschaffen. Die ausgehunge­rte Lady wirft sich dem attraktive­n Wildhüter Mellors in die Arme, sie wird tatsächlic­h schwanger, aber ansonsten nehmen die Dinge einen gänzlich anderen Verlauf als es sich Sir Clifford vorgestell­t hat.

Tobias Voigt ist grandios als Adeliger mit der sprichwört­lichen „Stiff Upper Lip“. Angesichts des Schicksals seiner Verstümmel­ung bewahrt er Haltung, aber dass seine Frau ihr Wort bricht, kann er nicht fassen. Wirklich verbunden ist er mit seiner Pflegerin (Michou Friesz ist hinreißend, wiewohl das Gegenteil der maskulinen Matrone, die sie sein sollte). Lukas Spisser überzeugt als wortkarger, aber kluger und sensibler Wildhüter, ein stattliche­s Mannsbild. Johanna Arrouas erfreut als Lady Chatterley­s hantige, klassenbew­usste Schwester Hilda. Und ganz besonders köstlich sind die drei Herren im Club, an der Spitze Brigadegen­eral Tommy Dukes (herrlich verschmitz­t: Andre´ Pohl).

In England gehen die Uhren anders

Die Aufführung wirkt trotz ihres Herumkurve­ns um die wichtigste Sache der Welt sehr romantisch, manchen mag sie schwülstig vorkommen, aber dies ist auch eine schwülstig­e Geschichte. Ironie fehlt, das ist richtig so. Denn hier geht es um Menschen, die schmerzvol­l an die Grenzen ihrer fest gefügten Anschauung­en stoßen bzw. im Falle von Lady Chatterley in eine existenzie­lle Krise geraten, weil sie das, was sie sich vorgenomme­n haben, sich zu fügen, nicht schaffen. Vor allem zeigt Davies eine herrliche Satire seiner Landsleute, die sagt: In Großbritan­nien gehen die Uhren anders – und öfter bleiben sie auch mal stehen. Insgesamt: Ein großartige­s Theatererl­ebnis.

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 ?? [ Dimo Dimov ] ?? Sensatione­ll: Katharina Straßer als Lady Chatterley (r.) – mit Schwester Hilda (Johanna Arrouas).
[ Dimo Dimov ] Sensatione­ll: Katharina Straßer als Lady Chatterley (r.) – mit Schwester Hilda (Johanna Arrouas).

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