Sägen an allen Ästen
Es ist eine kleine Sensation, was das Team um den Zürcher Germanisten Simon Zumsteg hier aus dem Nachlass Hermann Burgers präsentiert, in jedem Fall mehr als eine Ergänzung der achtbändigen Werkausgabe, die 2014 zum 25. Todestag des Autors erschienen ist. Zu Lebzeiten nicht publizierte Frühwerke posthum zu edieren ist oft primär für die Forschung relevant und mit Blick auf die Leser nicht immer ein Dienst am Autor.
Ganz anders liegen die Dinge bei Burgers nun erstmals veröffentlichtem Roman, „Lokalbericht“. Obwohl Fragment geblieben, ist das Buch 50 Jahre nach seiner Niederschrift unerwartet frisch. Wem Hermann Burger kein Begriff (mehr) ist, kann ihn mit diesem Frühwerk gleich von seiner besten Seite kennenlernen, Connaisseure werden überrascht feststellen, wie sich dieser Autor bereits in seinem Romanerstling mit schwindelerregender Sprachjonglierkunst den großen Themen seines Werks ungestüm zuwendet – sechs Jahre bevor ihm mit „Schilten. Schulbericht zuhanden der Inspektorenkonferenz“der große Durchbruch gelungen ist.
Entstanden ist der „Lokalbericht“1970, als Burger nach den Studienjahren in Zürich wieder in Aarau gewohnt hat. Er besteht aus drei Teilen. Im ersten geht es um die Welt auf Papier und ihre Akteure – Gendern ist hier noch nicht vonnöten –, im zweiten um die kleine „sogenannte Wirklichkeit“vor Ort. Der dritte Abschnitt sollte eine Art Synthese bringen und ist Rudiment geblieben. Programmatisch ist schon der Name des Erzählers: Günter Frischknecht. Diese Amalgamierung von Günter Grass, Max Frisch und Josef Knecht aus Hermann Hesses „Glasperlenspiel“evoziert drei Giganten der Nachkriegsliteratur, die einem 28-jährigen Jungautor auch die Sicht versperren konnten.
Der erste Teil lässt mit seiner Schärfe und fantastischen Buntheit der Bilder und Formulierungen sehr viele aktuelle Satiren auf den Literatur- und Wissenschaftsbetrieb blass aussehen. Während Burger an der Dissertation arbeitete und den Lebensunterhalt mit einem prekären Jobmix als Teilzeitlehrer, Gelegenheitsschreiber und Rezensent für lokale Zeitungen organisierte, arbeitete er an einem Roman, der diese Tätigkeitsfelder radikal demoliert. Er sägt, so Simon Zumsteg im Nachwort, an allen Ästen, auf denen er um 1970 gesessen ist, attackiert seinen Wohnort, das akademische Milieu, die Schule, die Presse, den Literaturbetrieb. Das könnte ein Grund sein, dass der Roman unpubliziert blieb und Burger nur einige Abschnitte in kleinere Essays einbaute.
Den Auftakt bildet im wörtlichen Sinn der Romantitel „Lokalbericht“, den Frischknecht erfindet; das Buch ist noch nicht geschrieben, aber er will sich gleich an die Interpretation machen, also das Verfahren abkürzen. Wozu braucht es das Werk, wenn es die „Germanistensprache“gibt? Sie speist sich aus den Wörtern, die die Dichter als unbrauchbar zurückgelassen haben, nachdem Zeus jene Wörterkiste über sie ausgeschüttet hat, die später der Duden-Verlag geerbt hat. Doch Professor Kleinert von der Universität in Zürich, wo Frischknecht schon damals viele Deutsche vorfindet, die den weniger eloquenten Einheimischen „die Antworten wegschnappen“, fordert eine handfeste Dissertation ein. Also macht sich Frischknecht wieder über seinen Zettelkasten zu Günter Grass’ „Blechtrommel“her, und Oskar Matzeraths Geschichte wird ihm eine Art Reiseführer und Spiegelszenario für die Zustände vor Ort. Zum Glaszersingen etwa bietet sich das „Bildungsaquarium“der Aargauer Kantonsbibliothek geradezu an, wo die Leser, „die armen Teufel“, im Glashaus sitzen und, wenn auf den Parkbänken draußen geküsst wird, den im sekundären Gewerbe so leicht ausbleibenden Musenkuss noch schmerzlicher vermissen.
Teil zwei ist eine Satire auf das Biotop Kleinstadt, das der Lokalreporter Barzel für
Qdie Bewohner zu einem „definitionsgerechten Nouveau-Roman mit allen Raffinessen“aufbereitet, den Burger mit Jugenderinnerungen bestückt. Im Zentrum steht das jährliche Jugendfest der Aargauer Kantonsschule – die Burger einst besucht hat und der er nun als Hilfslehrer angehört. Dieser Volksrummel, bei dem traditionell das historische Gefecht zwischen Kadetten und Freischaren nachgestellt wird, findet immer am 10. Juli statt, dem Geburtstag des Autors.
Konkret geht es im Roman um seinen 18. Geburtstag und den ersten Liebeskummer. Das selbst verfasste Gedicht hat nicht geholfen, die Angebetete ist mit einem anderen zugange. Da kann kein Budenzauber trösten, heulend zieht sich der junge Mann in die öffentliche Toilette im Aarauer Obertorturm zurück, der durchgängig zu Matzeraths Danziger Stockturm mutiert und auch selbst seine Geschichte erzählen darf. Hier verewigt sich Frischknecht, indem er ein Wort hinterlässt, das mit „Sch“beginnt, und „die Schrift lässt auf jüngst verebbte Kämpfe gegen die Schönschreibregeln schließen“. In dieser Formulierung ist die ganze Katastrophe der Pubertät enthalten, so wie in den Beschreibungen des Festablaufs das ganze Potenzial der Provinzposse.
Vor Ort hätte das Buch 1970 wohl für einige Aufregung gesorgt. Heute ist der große Sohn der Stadt eine Institution, und Aarau hat dem „Lokalbericht“gleich zwei Ausstellungen gewidmet: mit Originalmaterialien aus dem Nachlass im schweizerischen Literaturarchiv Bern und Exponaten zum lokal- wie zeithistorischen Kontext samt möglichen realen Vorbildfiguren, aus denen Burger seine Akteure zusammengebastelt hat. „So kann man heute nicht mehr schreiben“, verkündet im Roman der Großkritiker Felix Neidthammer apodiktisch, und das umreißt tatsächlich die Situation um 1970, als ein Regionalroman, und das ist „Lokalbericht“eben auch, so gar nicht angesagt war. Der Zug der Zeit ging damals nicht in die Provinz, sondern stracks in Richtung Metropolen, wo man den natürlichen Sitz der „litterature engagee“´ vermutete.
Ergänzend zum Buch entsteht eine digitale Edition, erarbeitet vom Schweizerischen Literaturarchiv mit dem Cologne Centre for E-Humanities CceH, die Einblick in die komplexe Textgenese und Hintergrundinformationen gibt. Dafür sorgt hier das instruktive Nachwort. Vor allem aber zeigt die analoge Lesefassung von Burgers „Lokalbericht“beeindruckend, was Literatur alles kann und was dieser Autor mit Sprache alles zu inszenieren verstanden hat.
Hermann Burger Lokalbericht Hrsg. aus dem Nachlass von Simon Zumsteg in Zusammenarbeit mit Peter Dängeli, Magnus Wieland, Irmgard M. Wirtz. 316 S., 19 Abb., brosch., € 29,95 (Edition Voldemeer/De Gruyter Verlag, Zürich)