Iraks Truppen vertreiben den IS aus Mossul
Nach monatelangen Kämpfen meldet Iraks Armee die vollständige Rückeroberung Mossuls. Der Sieg wurde durch Einnahme des IS-Hauptquartiers möglich. Besuch in der Zentrale des Terrors.
Mit dem Kopf seitlich leicht nach hinten gelehnt und dem Mund weit geöffnet, sitzt sie im Rollstuhl, als würde sie schlafen. Sie trägt einen leichten, ärmellosen Schurz, den Frauen der Region gern in den heißen Sommermonaten zu Hause anziehen. „Wir haben ihr noch Wasser gegeben, aber das half nichts“, erzählt Mohammed Raza, Leutnant der irakischen Bundespolizei. „Kurz darauf ist sie gestorben.“Die vielleicht 65-Jährige sitzt schon seit über einer Woche, wie dann auch zum Zeitpunkt ihres Todes, im Gang des Lagerhauses des al-Batool-Kinderkrankenhauses im irakischen Mossul. Die Frau im Rollstuhl war eine von vielen, die der Islamische Staat (IS) in der „Medizinstadt“gefangen gehalten hatte.
Das riesige Gelände, mit Fachkliniken, Schulungszentren und Schwesternheimen, war das IS-Hauptquartier in Westmossul. Hier, nahe der Altstadt, lag das Kommandozentrum der Islamisten im blutigen Kampf gegen die irakischen Truppen. Hier plante der IS-Geheimdienst seine Terroranschläge, verhörte, folterte und exekutierte Gefangene. In den Kellern der Krankenhäuser wurden Bomben wie am Fließband gebaut, Fahrzeuge für Selbstmordattentate mit Unmengen von Sprengstoff beladen, Tausende von Waffen und Munition gelagert. Über einen Monat hatte die irakische Armee vergeblich versucht, die IS-Zentrale einzunehmen. Am 1. Juli schafften es die irakische Bundespolizei und die Schnelle Eingreiftruppe, die Medizinstadt zu erobern – und damit die letzte, große IS-Verteidigungslinie.
Gestern, Sonntag, wurde der allerletzte Widerstand der Jihadisten gebrochen: Nach monatelangen Kämpfen befreite die irakische Armee die Stadt vollständig. Zu Mittag drangen irakische Eliteeinheiten bis ans Ufer des Tigris vor, die Soldaten hätten dort die irakische Flagge gehisst, hieß es im irakischen TV. „Der Oberkommandierende der Streitkräfte, Premier Haider al-Abadi, ist in der befreiten Stadt Mossul angekommen und hat den heldenhaften Kämpfern und dem irakischen Volk zu dem großen Sieg gratuliert“, hieß es in einer Erklärung des Büros vom irakischen Ministerpräsidenten. Fotos zeigten den irakischen Premier in der vollständig zerstörten Stadt.
„Hier ist alles vermint“
„Wir haben nur eine Woche gebraucht, um den IS zu vertreiben“, sagt Mohammed Raza von der Bundespolizei. „Wir sind einfach mit Abrahams reingefahren, dann ging alles ziemlich schnell.“Abrahams aus US-Produktion zählen zu den derzeit stärksten Kampfpanzern und haben sich als eine unverzichtbare Waffe gegen den IS erwiesen. Die irakische Armee hat zwischen 2010 und 2012 140 Stück davon erhalten. „Als es zu Ende ging, sind viele der rund 300 IS-Kämpfer geflohen“, sagt Raza. Vorwiegend seien es die Ausländer in den Reihen der Terrorgruppe gewesen, die die Beine in die Hand genommen hätten. Sie flüchteten in die Altstadt, in der sich der IS noch in einzelnen, wenigen Vierteln verschanzt hatte. „Es gab Sudanesen, Ägypter, Saudis, aber vor allem sehr viele Tschetschenen und Russen“, zählt der erst 26-jährige Leutnant auf. „Sie sind erfahrene und brutale Kämpfer.“
Natürlich habe es eine Reihe von Tunnels gegeben, erzählt der Offizier weiter, die von einem Gebäude zum anderen führten. „Entweder wurden sie durch Luftangriffe zerstört, oder wir haben sie selbst in die Luft gesprengt.“Raza führt zwischen zerstörten Gebäuden und Bombenkratern vorbei, zu einem Haus mit einem halb herabhängenden Balkon. Er will uns die Leiche einer weiblichen Scharfschützin zeigen. „Sie kam aus Ägypten und war die Frau des sudanesischen IS-Kommandanten, der hier befehligte.“Der Leutnant deutet auf den Balkon. „Da oben ist sie.“Man kann kaum etwas sehen, sie ist hinter der Brüstung zusammengesackt. Nur der Gestank wird immer intensiver, je näher man kommt. „Vorsicht, gehen Sie nicht zu weit“, ruft Raza. „Hier ist alles vermint.“Erst vor drei Tagen wurden zwei Bundespolizisten durch eine versteckte Mine getötet.
In der Tiefgarage des Republikanischen Krankenhauses parken noch zwei Geländewagen der Marke KIA. Die Fahrer- und Beifahrersitze sowie die Reifen sind mit Metallplatten geschützt. Der Rest des Autos ist voll mit Sauerstoff und Sprengstoff gefüllten Gasflaschen. In den beiden Wagen wollten sich Selbstmordattentäter in die Luft jagen. Auch hier ist es nicht zu empfehlen, näher heranzutreten. Der Boden ist vermint.
Unweit des Spitalseingangs liegen im Keller einer Villa Tausende Gewehre. Sie sind unbrauchbar, nachdem der IS sie in Brand gesteckt hat. Die Bombenwerkstatt der Jihadisten befindet sich im Untergeschoß des alBatool-Kinderkrankenhauses. Neben der Autoeinfahrt stehen 15 Gasflaschen mit Zündschnüren einsatzbereit. „Hier wurden die Selbstmordwagen zusammengebaut und mit Bomben beladen“, so Oberst Makadem Mohanned Rabi, der für dieses Viertel der Medizinstadt verantwortlich ist. Er wollte es sich nicht nehmen lassen, einen Rundgang persönlich anzuführen.
„Aber es wird noch viel besser“, meint der frisch rasierte Offizier in seiner akkurat sauberen blauen Uniform. Er führt in eine mehrere Hundert Quadratmeter große unterirdische Lagerhalle. Hier stapeln sich in der Dunkelheit reihenweise Säcke voller Schutt, die von den Tunnelgrabungen des IS stammen. Noch viel unglaublicher sind die leeren Munitionskisten und Patronenhülsen, die in Kisten, Säcken und in mehreren Haufen verteilt liegen. Alle Patronen wurden per Hand geöffnet, um an das Pulver zu gelangen und es für den Bombenbau zu verwenden. Es sind Abertausende von leeren Patronen, die in der Lagerhalle überall verteilt liegen. Bei jedem Schritt muss man aufpassen, dass man nicht auf einer der Hülsen ausrutscht. Es muss Monate gedauert haben, diese Patronen zu leeren. Das macht die unvorstellbare kriminelle Energie der Jihadisten deutlich.
Auch der Oberst sei überrascht gewesen, als er das alles zum ersten Mal hier gesehen habe. „Weiter hinten liegen noch Waffen“, erklärt er. Es ist ein Stapel von Gewehren und Mörsergranaten. Daneben liegen moderne Zielfernrohre für Heckenschützen. Zurück im Tageslicht will der Oberst noch einige tote IS-Kämpfer zeigen.
Über Steinbrocken, Mauern- und Metallteile geht es in Richtung Logistikkomplex. Aber der Verwesungsgeruch der Leichen der beiden russischen IS-Kämpfer an einem der Fenster ist so stark, dass man sich ohne Maske kaum nähern kann. „Lassen wir das“, sagt der Oberst. „Hier ist noch etwas, das Sie sich ansehen sollten.“
Hinter der Tür im schmalen Gang des Lagerhauses ist es die ältere Frau, die einsam in ihrem Rollstuhl sitzt. Für sie kam die Befreiung zu spät. „Wir konnten insgesamt elf Gefangene lebend befreien“, sagt Oberst Rabi. „Aber leider konnten wir diese Frau nicht retten.“