Die Presse

Iraks Truppen vertreiben den IS aus Mossul

Nach monatelang­en Kämpfen meldet Iraks Armee die vollständi­ge Rückerober­ung Mossuls. Der Sieg wurde durch Einnahme des IS-Hauptquart­iers möglich. Besuch in der Zentrale des Terrors.

- Von unserem Mitarbeite­r ALFRED HACKENSBER­GER (MOSSUL)

Mit dem Kopf seitlich leicht nach hinten gelehnt und dem Mund weit geöffnet, sitzt sie im Rollstuhl, als würde sie schlafen. Sie trägt einen leichten, ärmellosen Schurz, den Frauen der Region gern in den heißen Sommermona­ten zu Hause anziehen. „Wir haben ihr noch Wasser gegeben, aber das half nichts“, erzählt Mohammed Raza, Leutnant der irakischen Bundespoli­zei. „Kurz darauf ist sie gestorben.“Die vielleicht 65-Jährige sitzt schon seit über einer Woche, wie dann auch zum Zeitpunkt ihres Todes, im Gang des Lagerhause­s des al-Batool-Kinderkran­kenhauses im irakischen Mossul. Die Frau im Rollstuhl war eine von vielen, die der Islamische Staat (IS) in der „Medizinsta­dt“gefangen gehalten hatte.

Das riesige Gelände, mit Fachklinik­en, Schulungsz­entren und Schwestern­heimen, war das IS-Hauptquart­ier in Westmossul. Hier, nahe der Altstadt, lag das Kommandoze­ntrum der Islamisten im blutigen Kampf gegen die irakischen Truppen. Hier plante der IS-Geheimdien­st seine Terroransc­hläge, verhörte, folterte und exekutiert­e Gefangene. In den Kellern der Krankenhäu­ser wurden Bomben wie am Fließband gebaut, Fahrzeuge für Selbstmord­attentate mit Unmengen von Sprengstof­f beladen, Tausende von Waffen und Munition gelagert. Über einen Monat hatte die irakische Armee vergeblich versucht, die IS-Zentrale einzunehme­n. Am 1. Juli schafften es die irakische Bundespoli­zei und die Schnelle Eingreiftr­uppe, die Medizinsta­dt zu erobern – und damit die letzte, große IS-Verteidigu­ngslinie.

Gestern, Sonntag, wurde der allerletzt­e Widerstand der Jihadisten gebrochen: Nach monatelang­en Kämpfen befreite die irakische Armee die Stadt vollständi­g. Zu Mittag drangen irakische Eliteeinhe­iten bis ans Ufer des Tigris vor, die Soldaten hätten dort die irakische Flagge gehisst, hieß es im irakischen TV. „Der Oberkomman­dierende der Streitkräf­te, Premier Haider al-Abadi, ist in der befreiten Stadt Mossul angekommen und hat den heldenhaft­en Kämpfern und dem irakischen Volk zu dem großen Sieg gratuliert“, hieß es in einer Erklärung des Büros vom irakischen Ministerpr­äsidenten. Fotos zeigten den irakischen Premier in der vollständi­g zerstörten Stadt.

„Hier ist alles vermint“

„Wir haben nur eine Woche gebraucht, um den IS zu vertreiben“, sagt Mohammed Raza von der Bundespoli­zei. „Wir sind einfach mit Abrahams reingefahr­en, dann ging alles ziemlich schnell.“Abrahams aus US-Produktion zählen zu den derzeit stärksten Kampfpanze­rn und haben sich als eine unverzicht­bare Waffe gegen den IS erwiesen. Die irakische Armee hat zwischen 2010 und 2012 140 Stück davon erhalten. „Als es zu Ende ging, sind viele der rund 300 IS-Kämpfer geflohen“, sagt Raza. Vorwiegend seien es die Ausländer in den Reihen der Terrorgrup­pe gewesen, die die Beine in die Hand genommen hätten. Sie flüchteten in die Altstadt, in der sich der IS noch in einzelnen, wenigen Vierteln verschanzt hatte. „Es gab Sudanesen, Ägypter, Saudis, aber vor allem sehr viele Tschetsche­nen und Russen“, zählt der erst 26-jährige Leutnant auf. „Sie sind erfahrene und brutale Kämpfer.“

Natürlich habe es eine Reihe von Tunnels gegeben, erzählt der Offizier weiter, die von einem Gebäude zum anderen führten. „Entweder wurden sie durch Luftangrif­fe zerstört, oder wir haben sie selbst in die Luft gesprengt.“Raza führt zwischen zerstörten Gebäuden und Bombenkrat­ern vorbei, zu einem Haus mit einem halb herabhänge­nden Balkon. Er will uns die Leiche einer weiblichen Scharfschü­tzin zeigen. „Sie kam aus Ägypten und war die Frau des sudanesisc­hen IS-Kommandant­en, der hier befehligte.“Der Leutnant deutet auf den Balkon. „Da oben ist sie.“Man kann kaum etwas sehen, sie ist hinter der Brüstung zusammenge­sackt. Nur der Gestank wird immer intensiver, je näher man kommt. „Vorsicht, gehen Sie nicht zu weit“, ruft Raza. „Hier ist alles vermint.“Erst vor drei Tagen wurden zwei Bundespoli­zisten durch eine versteckte Mine getötet.

In der Tiefgarage des Republikan­ischen Krankenhau­ses parken noch zwei Geländewag­en der Marke KIA. Die Fahrer- und Beifahrers­itze sowie die Reifen sind mit Metallplat­ten geschützt. Der Rest des Autos ist voll mit Sauerstoff und Sprengstof­f gefüllten Gasflasche­n. In den beiden Wagen wollten sich Selbstmord­attentäter in die Luft jagen. Auch hier ist es nicht zu empfehlen, näher heranzutre­ten. Der Boden ist vermint.

Unweit des Spitalsein­gangs liegen im Keller einer Villa Tausende Gewehre. Sie sind unbrauchba­r, nachdem der IS sie in Brand gesteckt hat. Die Bombenwerk­statt der Jihadisten befindet sich im Untergesch­oß des alBatool-Kinderkran­kenhauses. Neben der Autoeinfah­rt stehen 15 Gasflasche­n mit Zündschnür­en einsatzber­eit. „Hier wurden die Selbstmord­wagen zusammenge­baut und mit Bomben beladen“, so Oberst Makadem Mohanned Rabi, der für dieses Viertel der Medizinsta­dt verantwort­lich ist. Er wollte es sich nicht nehmen lassen, einen Rundgang persönlich anzuführen.

„Aber es wird noch viel besser“, meint der frisch rasierte Offizier in seiner akkurat sauberen blauen Uniform. Er führt in eine mehrere Hundert Quadratmet­er große unterirdis­che Lagerhalle. Hier stapeln sich in der Dunkelheit reihenweis­e Säcke voller Schutt, die von den Tunnelgrab­ungen des IS stammen. Noch viel unglaublic­her sind die leeren Munitionsk­isten und Patronenhü­lsen, die in Kisten, Säcken und in mehreren Haufen verteilt liegen. Alle Patronen wurden per Hand geöffnet, um an das Pulver zu gelangen und es für den Bombenbau zu verwenden. Es sind Abertausen­de von leeren Patronen, die in der Lagerhalle überall verteilt liegen. Bei jedem Schritt muss man aufpassen, dass man nicht auf einer der Hülsen ausrutscht. Es muss Monate gedauert haben, diese Patronen zu leeren. Das macht die unvorstell­bare kriminelle Energie der Jihadisten deutlich.

Auch der Oberst sei überrascht gewesen, als er das alles zum ersten Mal hier gesehen habe. „Weiter hinten liegen noch Waffen“, erklärt er. Es ist ein Stapel von Gewehren und Mörsergran­aten. Daneben liegen moderne Zielfernro­hre für Heckenschü­tzen. Zurück im Tageslicht will der Oberst noch einige tote IS-Kämpfer zeigen.

Über Steinbrock­en, Mauern- und Metallteil­e geht es in Richtung Logistikko­mplex. Aber der Verwesungs­geruch der Leichen der beiden russischen IS-Kämpfer an einem der Fenster ist so stark, dass man sich ohne Maske kaum nähern kann. „Lassen wir das“, sagt der Oberst. „Hier ist noch etwas, das Sie sich ansehen sollten.“

Hinter der Tür im schmalen Gang des Lagerhause­s ist es die ältere Frau, die einsam in ihrem Rollstuhl sitzt. Für sie kam die Befreiung zu spät. „Wir konnten insgesamt elf Gefangene lebend befreien“, sagt Oberst Rabi. „Aber leider konnten wir diese Frau nicht retten.“

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[ AFP ] Eine Stadt in Trümmern: Monatelang­e, heftige Kämpfe und jahrelange IS-Terrorherr­schaft zerstörten die einstige bedeutende und boomende irakische Wirtschaft­smetropole vollständi­g. Große Teile der Stadt sind vermint und unbewohnba­r.

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