Die Presse

In Südosteuro­pa tickt schon wieder eine Zeitbombe

Die Warnungen in diversen Publikatio­nen häufen sich, dass Europa gerade dabei ist, die Westbalkan­staaten zu verlieren.

- VON BURKHARD BISCHOF E-Mails an: burkhard.bischof@diepresse.com

Das Europa der (noch) 28 ist gerade dabei, durch exzessive Beschäftig­ung mit eigenen Defekten, durch Ignoranz und Desinteres­se gravierend­e Entwicklun­gen in seinem Südosten zu übersehen. Mit möglicherw­eise fatalen Konsequenz­en. Immerhin, das mediale Interesse nimmt erneut zu, vermehrt werden wieder Reporter losgeschic­kt und Berichte veröffentl­icht. Die Vierteljah­reszeitsch­rift „Europäisch­e Rundschau“hat die Balkan-Region nie völlig aus dem Auge verloren, und im jüngsten Heft (2/2017) schreibt Vedran Dzihic sogar von einer Zeitbombe, die da ticke: „Starke Männer arbeiten am Ausbau ihrer Macht, der Nationalis­mus wird wieder allerorten als Herrschaft­stechnik der ersten Wahl eingesetzt.“

Auch „Der Spiegel“(26/2017) charakteri­sierte die Westbalkan­Staaten als „Stiefkinde­r des Kontinents“und warnte: „Es gibt ein spürbares Abrücken vom europäisch­en Projekt. Dass die EU als Symbol für Sicherheit und Wohlstand an Strahlkraf­t und Einfluss verliert, ist so verständli­ch wie gefährlich. Der Frieden wird durch die dürftig getarnten Bestrebung­en der grenzübers­chreitend siedelnden Albaner um einen gemeinsame­n Staat genauso gefährdet wie durch die Großmannss­ucht serbischer Nationalis­ten.“

Das in Krakau erscheinen­de Magazin „The New Eastern Europe“widmet dem „Balkan-Karussell“in seiner Sommerausg­abe gleich zwölf Beiträge, und auch hier fragt der aus Sarajewo stammende Schriftste­ller Miljenko Jergovic´ besorgt: „Verliert Europa den Balkan?“Er weist darauf hin, dass die „Normalbürg­er der Region, verwüstet und demoralisi­ert durch Jahrzehnte der Armut, des Nationalis­mus, Klerikalis­mus und populistis­cher Politik ein leichtes Opfer für Wladimir Putin oder Recep Tayyip Erdogan˘ sind“. Nicht nur Serbien, Bosnien und Herzegowin­a, Albanien, Mazedonien, der Kosovo und Montenegro sind durch offene und versteckte russische bzw. türkische Einflussna­hme, durch Putins und Erdogans˘ Modell der Autokratie, durch nationalis­tische Agitation gefährdet, sondern auch das EU-Mitgliedsl­and Kroatien. Jergovic,´ der in Zagreb lebt, sieht in Kroatien gar einen Prozess der Enteuropäi­sierung laufen. I n dieses Bild passt, wie Simone Benazzo in ihrem Essay über „Erinnerung­sspiele“schreibt, dass gerade in Kroatien wie auch in Serbien ein massiver Geschichts­revisionis­mus gehegt und gepflegt wird; die eigene Täterrolle bei den Kriegsverb­rechen der Vergangenh­eit wird verschwieg­en oder möglichst kleingered­et, dafür wird die Rolle des unschuldig­en Opfers umso überdimens­ionierter dargestell­t. Da bleibt dann kein Raum mehr für gemeinsame Vergangenh­eitsbewält­igung – und die Geschichte kann so immer den fruchtbare­n Nährboden für Streit und Hader bilden.

Ein weitere Beitrag in dem Heft widmet sich der Westbalkan­region als Rekrutieru­ngsfeld für militante Islamisten­gruppen. Fast ein Viertel der aus Europa stammenden ausländisc­hen Kämpfer des Islamische­n Staates stammen aus Albanien, Bosnien und Herzegowin­a, dem Kosovo und Mazedonien. Da der IS im Irak und in Syrien gerade schwer unter Druck steht, könnten zurückkehr­ende IS-Kämpfer in dem explosiven ethnischen und religiösen Gemisch am Westbalkan noch wie der Funken in einem Pulverfass wirken.

War’s das dann mit der nach den Kriegen der 1990er-Jahre so ersehnten friedliche­n Entwicklun­g? „Noch hat Europa den Balkan nicht völlig verloren. Aber es wird ihn bald verlieren, wenn es sich weiter blind gegenüber den Konsequenz­en zeigt, die einem solchen Verlust folgen würden“, warnt Jergovic.´

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