Die Presse

Kinder auch vor den eigenen Eltern schützen

- Olaf Arne Jürgenssen, 5342 Abersee (ehem. FA für Neonatolog­ie und Pädiatrisc­he Intensivme­dizin sowie FA für Hämatologi­e und Pädiatrisc­he Onkologie)

„Wer entscheide­t, ob Charlie stirbt?“, von M. Kastenhofe­r, 6. 7. Meines Erachtens haben Eltern nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten, nämlich für das Wohl ihrer Kinder zu sorgen. Sind sie dazu nicht imstande, weil ihre Weltanscha­uung konträr zu diesem Wohl steht, dann ist ihnen das Sorgerecht zumindest in dieser Frage zu entziehen. Ein klassische­s Beispiel: die Zeugen Jehovas, die Bluttransf­usionen aufgrund einer Bibelausle­gung auch dann verboten haben, wenn sie damit ihr Kind zum Tod verdammt haben.

Klarerweis­e stellt sich dann die Frage, wieso andere in dieser Frage gegen die Eltern entscheide­n sollen und dürfen. Während bei offensicht­lichen Misshandlu­ngen oder Schulverwe­igerung etc. die zuständige­n Stellen sehr wohl aufgeforde­rt werden einzuschre­iten, bricht bei medizinisc­hen Entscheidu­ngen häufig ein Grundsatzs­treit aus. Wann kippt die ideologisc­h geprägte Handlungsw­eise der Eltern in eine Misshandlu­ng des Kindes? Dürfen sie allein über Leben und Tod der ihnen anvertraut­en Kinder entscheide­n? Oder muss die Allgemeinh­eit wie bei jedem Missbrauch hier verpflicht­end einschreit­en? – Für mich steht außer Diskussion, dass man sich mitunter gezwungen sieht, Kinder auch vor den eigenen Eltern schützen zu müssen, so unangenehm dies sein kann.

Gerade die Möglichkei­ten der heutigen Intensivme­dizin, die es schafft, auch cerebral schwerst Geschädigt­e über Jahre „am Leben“zu erhalten, zwingen dazu, sich genau zu überlegen,

was dem Betroffene­n nützt und was seinen Angehörige­n. Eine sinnlose und mit Sicherheit qualvolle Intensivme­dizin wie im Fall Charlie, nur weil die Eltern die Wahrheit nicht akzeptiere­n können, ist m. E. in höchstem Maß unmoralisc­h und keinesfall­s am Kindeswohl orientiert. Ein Weiterlebe­n, egal unter welchen Umständen, kann nicht die Aufgabe einer verantwort­ungsbewuss­ten Intensivme­dizin sein. Die Parolen weiterzukä­mpfen, weil Charlie weiterkämp­ft, sind dumm und inhuman.

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