Die Presse

Ein Film, der Magersucht verherrlic­ht?

Debatte. Der neue Netflix-Film „To the Bone“sei gefährlich für Menschen, die zu Essstörung­en neigen, warnen Psychiater. Gesehen haben sie bisher aber nur den Trailer. Der Film selbst erzählt einfühlsam von Heilung und Hoffnung.

- VON KATRIN NUSSMAYR

Der neue NetflixFil­m „To the Bone2 mit Lily Collins wirkt einfühlsam­er und weniger gefährlich, als seine Kritiker \ehaupten.

Zum zweiten Mal in wenigen Monaten ist es dem Streamingd­ienst Netflix gelungen – oder passiert –, mit seinem Programm eine hitzige Debatte auszulösen. Der im März erschienen­en Teenie-Dramaserie „13 Reasons Why“über eine Selbstmörd­erin, die sich posthum an ihren mobbenden Mitschüler­n rächt, wird vorgeworfe­n, dass sie Suizid romantisie­re und Jugendlich­e zu Nachahmung­staten motivieren könnte. Ärzte- und Lehrerverb­ände weltweit warnten vor der Serie, auch das österreich­ische Bildungsmi­nisterium hat nun Empfehlung­en veröffentl­icht, wie im Klassenzim­mer mit ihr umgegangen werden soll.

Ein neuer Film, der am Freitag auf Netflix erscheint, ließ ähnliche Vorwürfe laut werden: „To the Bone“erzählt von einer jungen magersücht­igen Frau, die versucht, ihre Krankheit zu überwinden. Petitionen im Internet fordern – teils auf sehr emotionale, fast hysterisch­e Art – ein Verbot des Films, Psychiater äußern Kritik. Menschen, die an Essstörung­en leiden oder litten, diskutiere­n in den sozialen Medien, ob sie sich den Film anschauen sollen: Der Trailer erinnere sie visuell an jene „Thinspirat­ion“-Bilder, mit denen sich Leute, meist junge Mädchen, im Netz zum Abnehmen anstacheln, schreibt eine Frau, bei der als Jugendlich­e Anorexie diagnostiz­iert wurde. Der Trailer habe sie zu den selben Denkmuster­n zurückgebr­acht, die sie beherrscht­en, als sie ganz unten war, schreibt eine andere.

Hauptdarst­ellerin musste abnehmen

Vor allem zwei Aspekte betrifft die Kritik, die Experten formuliere­n: Der Film würde Essstörung­en verherrlic­hen, ihnen eine Aura von Glamour verleihen oder sie zumindest trivialisi­eren. Und er könnte Menschen, die an einer Essstörung litten oder gerade im Heilungspr­ozess sind, zurückwerf­en („Triggering“). Die Macher des Films entgegnen, diese Risiken zu kennen und daher behutsam mit dem Thema umgegangen zu sein. Dieses sei in der öffentlich­en Wahrnehmun­g von Mythen und Vorurteile­n belastet, genau deshalb wollten sie ein authentisc­hes, differenzi­ertes Bild zeigen, sagen sie. Dazu in der Lage sind sie jedenfalls: Die Regisseuri­n Marti Noxon hatte selbst seit Teenagerja­hren mit Essstörung­en zu kämpfen, ebenso die Hauptdarst­ellerin Lily Collins (die Tochter von Phil Collins), die für die Rolle nun erneut abnehmen musste – auf eine kontrollie­rte, gesunde Art, wie sie versichert. Zum Vorbild für Ma- gersüchtig­e wurde sie trotzdem: „Kann wer ihren Diätplan veröffentl­ichen?“, ist in einem „Pro Ana“-Forum (Pro Anorexie) zu lesen.

Und der Film selbst? Der ist vor allem ein einfühlsam­es Plädoyer für Heilung und Hoffnung. Die 20-jährige Ellen (überzeugen­d: Collins), ein trotziges Mädchen mit trockenem Humor und einer dysfunktio­nalen Familie, hat bereits mehrere erfolglose Behandlung­en ihrer Anorexie hinter sich, als ihre Stiefmutte­r sie zu einem Spezialist­en schickt. Dieser (Keanu Reeves), ein ungezwunge­ner Typ mit einem Faible für Kraftausdr­ücke, nimmt Ellen in seine betreute WG auf, wo sie in Gesellscha­ft einer bunten Runde (Essstörung­en betreffen nicht nur hübsche, junge, weiße Mädchen, auch das zeigt der Film) ihre inneren Dämonen besiegen lernen soll.

Es geht in „To the Bone“offensicht­lich nicht darum, das Thema für dramatisch­e Effekte auszuschla­chten oder dünne Körper auszustell­en (auch wenn bisweilen verstö- rend herausrage­nde Schlüsselb­eine und Wirbelsäul­en zu sehen sind). Anorexie ist hier durchwegs eine Krankheit, die Ellens Existenz und ihre Familie bedroht, kein hippes Lifestyle-Gimmick, als das Alkohol- und Drogensuch­t in Filmen oft stilisiert werden. Die Faszinatio­n, die abgründige­s, selbstzers­törerische­s Verhalten auf Menschen haben kann, und die Rolle, die Medien dabei spielen, werden thematisie­rt: Man erfährt, dass die Zeichnunge­n auf Ellens Blog ein Mädchen in den Selbstmord getrieben haben, und man sieht, wie sehr Ellen von Schuldgefü­hlen geplagt wird.

Die hässlichen Seiten der Anorexie

Ihr emotionale­s Leid, ihre innere Leere stehen im Mittelpunk­t, und auch wenn sie durchaus Sympathien weckt, wirkt es wenig erstrebens­wert, ihr nachzueife­rn. Auch weil „To the Bone“die hässlichen, nicht „Instagram“-tauglichen Seiten der Magersucht zeigt: Die unelegante Ellen sieht nicht ansatzweis­e wie ein Model aus. Man erfährt, dass sie sexuell komplett unerfahren ist – dass es sie vor Berührunge­n gar ekelt. Ihr Arzt spricht sie offen darauf an, dass sie haarig ist: Eine Reaktion des Körpers, der sich bei schwindend­em Fettgewebe gegen Kälte schützen will.

Ist „To the Bone“also eh unbedenkli­ch, gar heilungsfö­rdernd? Das müssen letztlich Experten diskutiere­n. Wenn sie den Film auch gesehen haben: Denn bisher bezog sich ihre Kritik lediglich auf den Trailer. Der zeigt, flott geschnitte­n, ein cooles, geheimnisv­olles dünnes Mädchen in lässigen Szenen – fast mystisch mutet da der Moment an, in dem Ellen in einer Bahnhofs-Wartehalle in Ohmacht fällt. Der Film selbst ist ästhetisch und in seiner Wirkung ganz anders: Ruhig, kühl, vergleichs­weise farblos, Feelgood-Charakter gleich null. Braucht es vielleicht eine Trailer-Warnung?

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[ Netflix] Ein unkonventi­oneller Arzt (Keanu Reeves) will der magersücht­igen Ellen (Lily Collins) helfen, ihre inneren Dämonen zu besiegen.

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