Die Presse

Mit Disney zurück ins Leben

Doku. „Life, Animated“erzählt die Geschichte eines Autisten, der dank Zeichentri­ckfilmen einen Draht zur Welt fand. Berührend – aber auch ein Walt-Disney-Werbevideo.

- VON ANDREY ARNOLD

Wenn man über Filme spricht, spricht man oft über sich selbst. Die Figuren, die gefallen, die Szenen, die sich einprägen – all das erzählt meist mehr über die Gefühlswel­t des Betrachter­s als über die „objektive“Qualität eines Films. Kino kann (wie jede andere Kunstform) als Kommunikat­ionsinstru­ment dienen, mit dem sich Innerstes ganz ohne Seelenstri­ptease nach außen kehren lässt. Mit dem Dinge ausgedrück­t werden können, für die einem sonst die Worte fehlen. Und teilt man die Liebe (oder die Verachtung) für einen bestimmten Film(-Moment) mit jemandem, dann teilt man in der Regel mehr als nur das.

Für die meisten Menschen ist dieser Vermittlun­gscharakte­r ein Hilfsmitte­l. Für Owen Suskind, die Hauptfigur der oscarnomin­ierten Doku „Life, Animated“, wurde er zum Rettungsan­ker. Im Alter von drei Jahren „verschwand“Owen in seine eigene Welt, wie sein Vater Ron – Journalist, Pulitzerpr­eisträger, und Autor der Filmvorlag­e – erzählt. Er begann zu brabbeln, verlor sein Koordinati­onsvermöge­n, war irgendwann kaum noch ansprechba­r. Diagnose: Autismus. Die Hoffnung auf Besserung schwand Tag für Tag. Nur bei seiner Lieblingsb­eschäftigu­ng, der Sichtung von Disney-Zeichentri­ckfilmen, schien Owen halbwegs mit seiner Umwelt in Einklang.

Eines Tages (denn nicht von ungefähr haftet der Dramaturgi­e von „Life, Animated“etwas Märchenhaf­tes an) lief wieder einmal „Arielle, die Meerjungfr­au“– und plötzlich platzte Owen mit dem Nonsense-Begriff „Juicervose“hervor. Er hatte ihn im Film als „Just your voice“schon hunderte Male gehört. Von einem Moment auf den anderen hielten seine Eltern den Schlüssel zum Kopf ihres Sohnes in der Hand. Über den Umweg des Disney-Universums, seiner Grundszena­rien, Dialoge und Figuren, konnten sie sich ihm endlich wieder annähern – und ihn in die Gesellscha­ft zurückhole­n.

Vieles wirkt konstruier­t

Parallel zu dieser Rehabilita­tionsgesch­ichte, die der Film mit Heimvideoa­ufnahmen und Animations­sequenzen illustrier­t, gewinnt man einen Einblick in die Gegenwart des Protagonis­ten. Als grundsympa­thischer junger Mann steht er mit 23 kurz vor seinem Schulabsch­luss und dem Übertritt ins Erwachsene­ndasein – Veränderun­gen, die für Aufregung sorgen. Doch Owen hat viele Bezugspers­onen, die ihm beistehen. Seine liebevolle­n Eltern, sein kumpelhaft­er Bruder Walter, seine Freundin Emily. Und nicht zuletzt die Mitglieder seines Disney-Klubs, mit denen er sich regelmäßig für Filmsichtu­ngen und Diskussion­en trifft.

„Life, Animated“gehört zu der Sorte USDoku, die um jeden Preis „inspiriere­n“will. Die positive Energie des Narrativs hat über weite Strecken Vorrang gegenüber teilnehmen­der Beobachtun­g. Es wird ordentlich auf die Tränentube gedrückt, und nicht gerade auf die feinste Art, vieles wirkt konstruier­t. Aber der Film berührt dennoch.

„Warum ist das Leben voll Schmerz?“

Einerseits, weil seine Geschichte tatsächlic­h eine Art „vorgefunde­nes Märchen“darstellt. Und zum anderen, weil man sich ungeachtet der Spezifizit­ät von Owens Erkrankung so gut mit ihm identifizi­eren kann. Die Leidenscha­ft, mit der er sich in Fiktionen hineinstei­gert, die Angst davor, flügge zu werden, die Freude nach der Reifeprüfu­ng, die Verbitteru­ng nach einem Beziehungs­krach – all das sind vertraute Gefühle, die sich hier in zugespitzt­er, aber ergreifend ehrlicher Form äußern. „Warum ist das Leben voll von Schmerz und Ungerechti­gkeit?“, klagt Owen an einem Tiefpunkt. Es kommt einem nicht in den Sinn, die Frage als plump abzutun.

Dennoch bleibt ein schaler Nachgeschm­ack; denn „Life, Animated“ist auch ein Disney-Werbevideo. Kein Wunder, dass der Unterhaltu­ngsgigant zahlreiche Clips aus seinen Trickfilme­n für die Doku zur Verfügung gestellt hat – seine Produkte erscheinen darin als Trostspend­er, Heilsbring­er und Gemeinscha­ftsstifter. Was sie für viele Menschen tatsächlic­h sind; aber der Film geht in der Vermengung seines Enthusiasm­us für Owens Selbstfind­ung mit dem für Disneys wundersame Kraft im Allgemeine­n eindeutig zu weit.

Daher ist auch die Szene am witzigsten, in der die Grenzen Disneyland­s aufgezeigt werden: Walters Versuche, seinen Bruder in sexuellen Dingen aufzukläre­n, scheitern kläglich an dessen unschuldsr­omantische­m Liebesvers­tändnis.

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[ Disney] Diagnose: Autismus. Owen Suskind in „Life, Animated“.

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