Die Presse

Zeugnis für Politiker: Möglichkei­ten und vertane Chancen

In Österreich hat eine „Wirdschon-werden“-Mentalität Einzug genommen.

- VON STEFAN SCHUSTER Mag. Stefan Schuster (* 1974) ist Steuerbera­ter in Wien.

Die vergangene­n Tage erlauben es, der jetzigen Politik ein Zeugnis auszustell­en. Kein makelloses, vielleicht nicht mal ein sehr gutes, aber ein Zeugnis. Was denn nicht alles möglich ist, wenn die Zeit drängt – und was alles dann doch nicht kommt, weil die Zeit drängt – oder wenn es kommt, dann doch unfertig da ist.

Wir sprechen von Chancen und vertanen Möglichkei­ten; von entscheide­nden Prüfungen, die wesentlich­e Auswirkung­en auf den Herbst haben könnten; von ach so wichtigen Themen, die man auch in einem zweiten Regierungs­programm kurz vor dem Abgesang doch wieder nicht geschafft hat.

Kann sich noch jemand an das vollmundig­e Verspreche­n des Abschaffen­s der kalten Progressio­n erinnern? Doch sie wurde verschoben, nein, abgeblasen. Denn verschiebe­n auf die nächste Legislatur­periode hat auch etwas von einem Glücksspie­l: Man kann nicht sicher sein, was herauskomm­en wird. Und der Grund des Absagens war dann die Frage, wie man denn alles finanziere­n soll.

Das klingt vernünftig. Wenn man nicht weiß, wie man einen Ausfall finanziert, muss man sich das Ganze noch einmal in Ruhe ansehen und Wege finden. Nicht erfreulich für viele Steuerpfli­chtige, aber staatstrag­end vernünftig.

Wobei man sich wohl erst später klar war, dass hier beide Regierungs­parteien nicht vom gleichen Abschaffun­gsumfang sprechen, obwohl sie die Abschaffun­g der kalten Progressio­n grundsätzl­ich vereinbart hatten. Kommunikat­ionsfehler, oder so.

100 Millionen, oder so

Dann kam etwas, was gar nicht vereinbart und mit großem Getöse doch beschlosse­n wurde: die Abschaffun­g des Pflegregre­sses. Auch das ist grundsätzl­ich sinnvoll. Doch plötzlich war das mit der Finanzieru­ng gar nicht mehr so wichtig. 100 Millionen werden schon reichen, oder so. Die kratzt man aus der Bebilderun­g der e-card zusammen, die für sich laut Schätzung des Hauptverba­ndes der Sozialvers­icherungst­räger 18 Millionen kosten wird. Den neuen Vorsitzend­en freut es, denn nun braucht er sich wegen der Finanzieru­ng keine Sorgen mehr machen.

Wahlkampf sei Dank

Es wurde ja auf Bundeseben­e eben beschlosse­n, dass das kommen wird. Bis 2023 wird es bundesweit flächendec­kend eine bebilderte e-card geben. Bei 21 dokumentie­rten Missbrauch­sfällen zwischen 2014 und 2016, zumindest in Wien. Na, da wird schon noch was zusammenko­mmen, was als Gegenfinan­zierung halten wird, oder so.

Und der neue Coup – ok, das waren primär die Sozialpart­ner. Wobei man ja auch nicht immer so genau weiß, wer auf welcher Bank sitzt. Jedenfalls gibt es eine tolle Einigung, die die Regierung mit 30.6. junktimier­t hatte. Weil, wenn bis dahin kein Ergebnis gekommen wäre, hätte das auf Regierungs­ebene gelöst werden müssen – ein Schelm, der sich Böses denkt. Welche Regierung? In welcher Periode?

Aber zum Glück haben die Sozialpart­ner es geschafft, sich zu einigen. Zumindest auf einen Mindestloh­n. Wahlkampf sei Dank. Das mit der Arbeitszei­t wäre auch im Package gewesen – und auch im Junktim der Regierung. Aber seien wir nicht kleinlich. Besser ein zweifelhaf­ter als gar kein Deal. Bis 2020 wird der Mindestloh­n greifen, dann aber meist ohnehin bereits automatisc­h wegen der jährlichen KVErhöhung­en. Das Thema Arbeitszei­t, das soll dann in der nächsten Legislatur­periode, dann aber wirklich angegangen werden.

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass in den letzten Wochen eine „Wird-schon-werden?“-Mentalität Einzug gehalten hat. Man könnte es auch als unausgegor­ene, aktionisti­sche Handlungen interpreti­eren. Mal sehen, was im Herbst so wird.

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