Ein Land vor dem Abgrund
Venezuela. Präsident Maduro hält trotz Generalstreik an der Wahl der verfassungsgebenden Versammlung fest. In dem krisengebeutelten Staat wird der Raum für eine politische Lösung jeden Tag kleiner.
Buenos Aires/Caracas. Unbeirrt steuert Venezuelas Regierung auf die Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung am kommenden Sonntag zu. Präsident Nicolas´ Maduro ließ sich von seinem Ziel weder von vielfachen Initiativen aus dem Ausland noch von einem zweitägigen Generalstreik der Opposition abbringen. Bei dem Streik wurden bisher drei Menschen bei Zusammenstößen mit der Polizei getötet.
Nach Angaben der Staatsanwaltschaft starb ein 16-jähriger Jugendlicher in einem Armenviertel der Hauptstadt, Caracas, ein 23-Jähriger wurde in der westlichen Provinz Merida getötet. Auch gestern errichteten Oppositionsanhänger in vielen Städten Barrikaden und marschierten in den Straßen, um für den Boykott der Wahl zu mobilisieren. Am Sonntag sollen die Bürger mit ihren Stimmen die 545 Mitglieder jener Versammlung auswählen, die dem Land ein neues Grundgesetz geben soll.
Da Regierung und nationaler Wahlrat die Vorauswahl der möglichen Kandidaten so organisiert haben, dass in jedem Fall eine Mehrheit für das Regierungslager herauskommen würde, hat die Opposition beschlossen, die Abstimmung zu boykottieren. Sollte am Sonntag die Wahl, wie erwartet, stattfinden, würde die neue „constituyente“die bisherige Nationalversammlung ablösen, in der die Opposition seit Jänner 2016 die Mehrheit hält.
Maduro behauptet, mit seiner Strategie das „Land befrieden“zu wollen. Er sucht vor allem nach einem Parlament, das ausgehandelten Verträgen mit internationalen Investoren zustimmt und sowohl Erdöl- als auch Bergbaukonzernen Rechtssicherheit bietet. Er hofft, dass ausländische Investitionen die desaströse ökonomische Situation des Landes verbessern können.
1000 Prozent Inflation erwartet
Venezuelas Wirtschaftsleistung sank im Vorjahr um 16 Prozent, heuer werden an die 1000 Prozent Inflation erwartet. Hunger, Medikamentenmangel und politische Unsicherheit ließen zuletzt den Strom der Flüchtlinge aus Venezuela massiv anschwellen. Inzwischen registrieren die kolumbiani- schen Behörden mehr als 50.000 Ausreisen von Venezolanern pro Tag. Seit 118 Tagen halten die Proteste an. Insgesamt werden bereits 105 Todesopfer verzeichnet.
In der Vorwoche verlangte die Wirtschaftsgemeinschaft Mercosur, „keinerlei Initiative zu unternehmen, die Venezuelas Gesellschaft weiter spalten und internationale Konflikte vertiefen könnte“. Auch die EU und die Organisation Amerikanischer Staaten äußerten sich ähnlich. Am Mittwoch schließlich war es das Weiße Haus in Washington, das Venezuela mit „harten und schnellen ökonomischen Maßnahmen“drohte, falls am Sonntag tatsächlich abgestimmt werden sollte.
Um dieser Drohung Nachdruck zu verleihen, verlängerte die US-Regierung ihre schwarze Liste von prominenten Venezolanern um 13 Namen. Zu jenen Personen, die künftig nicht mehr in die USA einreisen dürfen und deren Güter und Werte auf US-Territorium beschlagnahmt werden, gehören die Chefin des nationalen Wahlrates CNE, Tibisay Lucena, die von den USA für Manipulationen der Wahlabläufe verantwortlich gemacht wird, sowie weitere Organisatoren des Wahlgangs am Sonntag.
Nadelstiche gegen Regimegrößen
Außerdem traf der Bann Militärs sowie hohe Finanzbeamte, denen die USA vorwerfen, mit dem artifiziellen Wechselkurssystem Millionen zu lukrieren. Bei einem Geschäftsmann, den die USA für den Strohmann von Venezuelas Vizepräsidenten, Tareck El Aissami, halten, wurden Immobilien und Vermögenswerte von „Hunderten Millionen Dollar“registriert. Der Vizepräsident und sein ehemaliger Studienfreund befinden sich seit Februar auf der schwarzen Liste.
Damit setzt die Trump-Regierung vorerst den Kurs von Barack Obama fort, der persönliche Nadelstiche gegen Regimegrößen als weniger schädlich für Venezuelas Bevölkerung – und wohl auch für die US-Interessen – als einen Boykott der Erdölgeschäfte mit dem Karibikstaat ansah. Venezuelas Lieferungen entsprechen heute nur noch etwa acht Prozent aller US-Rohölimporte. Gleichzeitig bedeuten die Verkäufe in den USA für Venezuela etwa 60 Prozent seiner gesamten Erlöse.
Die USA könnten einen Boykott wesentlich leichter verkraften als Venezuela. Dass Venezuelas Schuldentitel zuletzt an der Wall Street sehr gefragt waren, deutet indes darauf hin, dass hohe Finanzkreise kein Ölembargo erwarten, das zum größten Staatsbankrott der Geschichte führen könnte.