Zufällig Jude – zufällig Deutscher?
Theaterwissenschaft. Ein neues Buch beleuchtet das „Judentum in der Oper“– internationale Forscher arbeiten den heiklen Stoff vom Mittelalter bis heute vorbildlich auf.
Internationale Tagungen zu speziellen wissenschaftlichen Fragen lassen sich in aller Regel nicht in aufregenden Erzählungen zusammenfassen. Doch diesmal liest sich der Symposionsbericht der Europäischen Musiktheater-Akademie wenn schon nicht wie ein Krimi, so doch wie das Manuskript einer spannenden Vorlesungsreihe zu einem allerdings sehr speziellen Thema.
Zur Begleitung von Peter Konwitschnys Neuinszenierung von Halevys´ „Die Jüdin“an der flandrischen Oper fanden sich Soziologen, Theater- und Musikwissenschaftler, um über das „Judentum in der Oper“zu diskutieren. Der Anklang an Richard Wagners berüchtigte Schmähschrift „Das Judentum in der Musik“war bewusst gewählt. Weniger bewusst schien den Beteiligten offenkundig die Tatsache, wie wenig erforscht ihr Thema in allen Bereichen tatsächlich bis dato war.
In dem eben erschienenen 360-seitigen Dokumentationsband finden sich einige geradezu bahnbrechende Arbeiten: bahnbrechend insofern, als sie Denkanstöße und Arbeitsanregungen für künftige akribische Grabungsarbeiten in der jüngeren und ferneren Musiktheatergeschichte geben und die Themen zum Teil das allererste Mal überhaupt anreißen.
Dass gleich im ersten Beitrag (Faina OzSalzberger: „Discussing Jews And Opera: Is It Politically Correct?“) die Frage nach der politischen Korrektheit gestellt wird, ist bezeichnend für den Umgang mit einem solchen, großen Thema in unseren Tagen. Juden als Komponisten, als Librettisten, Juden als Darsteller, Juden als Dargestellte das Judentum in seinem Verhältnis zum „christlichen Abendland“als Thema eines Dramas (implizit oder explizit) – das lässt sich heute notgedrungen nur noch aus der Perspektive nach der Shoah betrachten.
Verdeckte Traditionen
Und doch: Wer echtes historisches Bewusstsein wecken will, muss versuchen, die jeweiligen Zeitumstände mitzudenken und Gegebenheiten aus ihnen heraus verständlich werden zu lassen.
Das gelang den Referenten geradezu mustergültig, in der scharfen Analyse konkreter Momente – etwa in Diskussionen um die Aufführungsproblematik von Werken wie Schönbergs „Moses und Aron“oder eben von Halevys´ „La juive“, in Betrachtungen über den Unterschied zwischen jüdischem Synagogalgesang und der Tongebung bei Opernsängern, beim Aufspüren von verdeckten jüdischen Traditionen in Operntexten und musikalisch-textlichen Metamorphosen. Faszinierend zum nur scheinbar exotischen letztgenannten Problemkreis: Massimo Acanfora Torrefrancas Studie über die Verbindungslinien zwischen einer Hymne über die „emancipazione israelitica“und der Musik des Risorgimento.
Torrefranca verweist auch auf die Tatsache, dass Opern, die jüdische Themen behandeln, vom Publikum des frühen 19. Jahrhunderts, auch wenn sie auf biblischen Themen basieren, von den klassischen antiken oder historischen Sujets überhaupt nicht unterschieden wurden.
Bei David Conway findet sich ein weiterer Schlüssel zum tieferen Verständnis von offenkundig historisch tief verwurzelten Perspektivverschiebungen: Halevy´ und die französischen Musiker und Historiker sahen sich vorrangig als „Franzosen, die zufällig Juden waren“. Giacomo Meyerbeer hingegen, den Wagner zu seinem Antipoden machte, „fühlte sich selbst als Jude, der zufällig Deutscher war“.
Auf ähnliche seelisch-gedankliche Balanceakte rekurriert auch Julie Brown, wenn sie Schönbergs Bekenntnis zu Wagner und dessen Folgerung zitiert, ein richtiger „Wagnerianer“müsse auch an die Philosophie des Komponisten „glauben“und in dieselbe auch die Gedanken über das „Judentum in der Musik“einbeziehen.
So kommt es im „Wien um 1900“zu den bis heute unbewältigten, „unbegriffenen“Verwerfungen – noch 100 Jahre zuvor waren Juden auf der Wiener Vorstadtbühne exotisch-komödiantische Figuren, nichts weiter, wie Hilde Haider nachweist. Ihre Studie regt zu weiterführenden Betrachtungen wie der von Frieder Reininghaus über „Die Jüdin und das Jüdische auf der Musikbühne“an: blendend recherchierte Geschichtsaufarbeitung, beginnend im Mittelalter, endend mit höchst unterschiedlichen aktuellen Inszenierungen der „Jüdin“– und als Auftakt zu lesen: Den Kulturwissenschaften bleiben noch spannende Rätsel zu lösen.
Unter anderem auch die nach wie vor kaum beachtete, (un)heimliche Ablöse des nationalsozialistischen „Rassenwahns“durch die folgenschwere „Schere im Kopf“, die Theodor W. Adornos kulturtheoretische Verdikte ansetzten (Erik Levi: „Suppressed And Forgotten“). Dazu Listen neuer israelischer Kompositionen (Jehoash Hirschberg), die Frage nach der Shoah auf der Opernbühne (Susanne Vill) und Kuriosa wie ein Operettenlibretto Theodor Herzls – bereichernd!
I. Schmid-Reiter; A. Cahn (Hrsg.): „Judentum in der Oper“(zweisprachig), ConBrio Verlagsgesellschaft, 2017, 360 Seiten, 34 Euro.