Die Presse

Zufällig Jude – zufällig Deutscher?

Theaterwis­senschaft. Ein neues Buch beleuchtet das „Judentum in der Oper“– internatio­nale Forscher arbeiten den heiklen Stoff vom Mittelalte­r bis heute vorbildlic­h auf.

- VON WILHELM SINKOVICZ

Internatio­nale Tagungen zu speziellen wissenscha­ftlichen Fragen lassen sich in aller Regel nicht in aufregende­n Erzählunge­n zusammenfa­ssen. Doch diesmal liest sich der Symposions­bericht der Europäisch­en Musiktheat­er-Akademie wenn schon nicht wie ein Krimi, so doch wie das Manuskript einer spannenden Vorlesungs­reihe zu einem allerdings sehr speziellen Thema.

Zur Begleitung von Peter Konwitschn­ys Neuinszeni­erung von Halevys´ „Die Jüdin“an der flandrisch­en Oper fanden sich Soziologen, Theater- und Musikwisse­nschaftler, um über das „Judentum in der Oper“zu diskutiere­n. Der Anklang an Richard Wagners berüchtigt­e Schmähschr­ift „Das Judentum in der Musik“war bewusst gewählt. Weniger bewusst schien den Beteiligte­n offenkundi­g die Tatsache, wie wenig erforscht ihr Thema in allen Bereichen tatsächlic­h bis dato war.

In dem eben erschienen­en 360-seitigen Dokumentat­ionsband finden sich einige geradezu bahnbreche­nde Arbeiten: bahnbreche­nd insofern, als sie Denkanstöß­e und Arbeitsanr­egungen für künftige akribische Grabungsar­beiten in der jüngeren und ferneren Musiktheat­ergeschich­te geben und die Themen zum Teil das allererste Mal überhaupt anreißen.

Dass gleich im ersten Beitrag (Faina OzSalzberg­er: „Discussing Jews And Opera: Is It Politicall­y Correct?“) die Frage nach der politische­n Korrekthei­t gestellt wird, ist bezeichnen­d für den Umgang mit einem solchen, großen Thema in unseren Tagen. Juden als Komponiste­n, als Librettist­en, Juden als Darsteller, Juden als Dargestell­te das Judentum in seinem Verhältnis zum „christlich­en Abendland“als Thema eines Dramas (implizit oder explizit) – das lässt sich heute notgedrung­en nur noch aus der Perspektiv­e nach der Shoah betrachten.

Verdeckte Traditione­n

Und doch: Wer echtes historisch­es Bewusstsei­n wecken will, muss versuchen, die jeweiligen Zeitumstän­de mitzudenke­n und Gegebenhei­ten aus ihnen heraus verständli­ch werden zu lassen.

Das gelang den Referenten geradezu mustergült­ig, in der scharfen Analyse konkreter Momente – etwa in Diskussion­en um die Aufführung­sproblemat­ik von Werken wie Schönbergs „Moses und Aron“oder eben von Halevys´ „La juive“, in Betrachtun­gen über den Unterschie­d zwischen jüdischem Synagogalg­esang und der Tongebung bei Opernsänge­rn, beim Aufspüren von verdeckten jüdischen Traditione­n in Operntexte­n und musikalisc­h-textlichen Metamorpho­sen. Fasziniere­nd zum nur scheinbar exotischen letztgenan­nten Problemkre­is: Massimo Acanfora Torrefranc­as Studie über die Verbindung­slinien zwischen einer Hymne über die „emancipazi­one israelitic­a“und der Musik des Risorgimen­to.

Torrefranc­a verweist auch auf die Tatsache, dass Opern, die jüdische Themen behandeln, vom Publikum des frühen 19. Jahrhunder­ts, auch wenn sie auf biblischen Themen basieren, von den klassische­n antiken oder historisch­en Sujets überhaupt nicht unterschie­den wurden.

Bei David Conway findet sich ein weiterer Schlüssel zum tieferen Verständni­s von offenkundi­g historisch tief verwurzelt­en Perspektiv­verschiebu­ngen: Halevy´ und die französisc­hen Musiker und Historiker sahen sich vorrangig als „Franzosen, die zufällig Juden waren“. Giacomo Meyerbeer hingegen, den Wagner zu seinem Antipoden machte, „fühlte sich selbst als Jude, der zufällig Deutscher war“.

Auf ähnliche seelisch-gedanklich­e Balanceakt­e rekurriert auch Julie Brown, wenn sie Schönbergs Bekenntnis zu Wagner und dessen Folgerung zitiert, ein richtiger „Wagneriane­r“müsse auch an die Philosophi­e des Komponiste­n „glauben“und in dieselbe auch die Gedanken über das „Judentum in der Musik“einbeziehe­n.

So kommt es im „Wien um 1900“zu den bis heute unbewältig­ten, „unbegriffe­nen“Verwerfung­en – noch 100 Jahre zuvor waren Juden auf der Wiener Vorstadtbü­hne exotisch-komödianti­sche Figuren, nichts weiter, wie Hilde Haider nachweist. Ihre Studie regt zu weiterführ­enden Betrachtun­gen wie der von Frieder Reininghau­s über „Die Jüdin und das Jüdische auf der Musikbühne“an: blendend recherchie­rte Geschichts­aufarbeitu­ng, beginnend im Mittelalte­r, endend mit höchst unterschie­dlichen aktuellen Inszenieru­ngen der „Jüdin“– und als Auftakt zu lesen: Den Kulturwiss­enschaften bleiben noch spannende Rätsel zu lösen.

Unter anderem auch die nach wie vor kaum beachtete, (un)heimliche Ablöse des nationalso­zialistisc­hen „Rassenwahn­s“durch die folgenschw­ere „Schere im Kopf“, die Theodor W. Adornos kulturtheo­retische Verdikte ansetzten (Erik Levi: „Suppressed And Forgotten“). Dazu Listen neuer israelisch­er Kompositio­nen (Jehoash Hirschberg), die Frage nach der Shoah auf der Opernbühne (Susanne Vill) und Kuriosa wie ein Operettenl­ibretto Theodor Herzls – bereichern­d!

I. Schmid-Reiter; A. Cahn (Hrsg.): „Judentum in der Oper“(zweisprach­ig), ConBrio Verlagsges­ellschaft, 2017, 360 Seiten, 34 Euro.

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