Wie halten wir es mit dem Geschichtsunterricht?
Gastkommentar. Geschichtliches Nichtwissen kann zu Politikflops führen; aber auch in der Schule nimmt es in erschreckendem Maß zu.
Ü ber Spott und Häme, die sich Kanzler Christian Kern mit dem Slogan „Holen Sie sich, was Ihnen zusteht“eingehandelt hat, wurde schon viel geredet, über die versäumte Chance, der Blamage zu entgehen, dagegen noch zu wenig. Vor allem das offenkundige Fehlen geschichtlichen Wissens wurde als Ursache des Werbeflops erstaunlicherweise kaum ins Treffen geführt.
Hätten Kern und seine Wegbegleiter in der Wiener Löwelstraße ein wenig beim Urvater der roten Denkungsart geschmökert, dann wäre ihnen im „Kapital“unweigerlich die Ähnlichkeit ihrer Werbebotschaft mit einem Satz aufgefallen, der da lautete: „Expropriiert die Expropriateure.“Die vor 150 Jahren veröffentlichte Forderung hatte fatale Folgen, als sie dann ein halbes Jahrhundert später von Lenin und den Bolschewiki zur staatlichen Politik erklärt wurde.
Wussten Kern und seine Berater denn nicht, dass der unheilvolle Satz des Karl Marx damals zu einem wahren Chaos und einem unkontrollierten Banditentum mit Überfällen und Raub geführt hat, nach dem Motto „Wenn die Bolschewiki sich nehmen können, was sie wollen, dann können wir das auch“?
Man wird Kern gewiss nicht unterstellen wollen, dass er eine flächendeckende Enteignung von Privatbesitz im Auge gehabt hat, als er den unsäglichen Slogan, der ihm von seinem Berater Silberstein aufgeschwatzt worden ist, zur Veröffentlichung freigegeben hat. Sehr wohl aber hätte er die gesellschaftspolitische Sprengkraft des Satzes, seinen historischen Hintergrund und die geistige Nähe zu 1867 und 1917 erkennen müssen.
Das Beispiel mit dem verpatzten Werbespruch der SPÖ bringt zugleich die grundsätzliche Bedeutung der geschichtlichen Wissensvermittlung in Erinnerung, bei der freilich auch viele Gefühle im Spiel sind. Ereignisse wie die Erschießung des Tiroler Freiheitskämpfers Andreas Hofer durch die Franzosen, das Aufbäumen Maria Theresias gegen den Preußenkönig Friedrich II. in den drei Schlesischen Kriegen oder zuvor die Verteidigung Wiens und die Siege des Prinzen Eugen in den Türkenkriegen haben bei Generationen junger Österreicher in den Schulstunden je nachdem Trauer, Stolz, Scham, Bedauern oder Freude ausgelöst.
Vor allem aber hat Geschichte, wie der Historiker Schulze-Wessel vermerkt hat, eine wichtige Orientierungsfunktion. Das Eintauchen in die fremde Welt vergangener Epochen schult nämlich das Denken in Alternativen und schärft das Bewusstsein für politische Chancen ebenso wie für Versäumnisse. Darüber hinaus kann sich aus dem historischen Wissen in der Gesellschaft ein Immunsystem gegen die Wiederholung von Fehlern, wie etwa jene des Nationalsozialismus, bilden.