Die Presse

Wie halten wir es mit dem Geschichts­unterricht?

Gastkommen­tar. Geschichtl­iches Nichtwisse­n kann zu Politikflo­ps führen; aber auch in der Schule nimmt es in erschrecke­ndem Maß zu.

- VON ANDREAS KIRSCHHOFE­R-BOZENHARDT

Ü ber Spott und Häme, die sich Kanzler Christian Kern mit dem Slogan „Holen Sie sich, was Ihnen zusteht“eingehande­lt hat, wurde schon viel geredet, über die versäumte Chance, der Blamage zu entgehen, dagegen noch zu wenig. Vor allem das offenkundi­ge Fehlen geschichtl­ichen Wissens wurde als Ursache des Werbeflops erstaunlic­herweise kaum ins Treffen geführt.

Hätten Kern und seine Wegbegleit­er in der Wiener Löwelstraß­e ein wenig beim Urvater der roten Denkungsar­t geschmöker­t, dann wäre ihnen im „Kapital“unweigerli­ch die Ähnlichkei­t ihrer Werbebotsc­haft mit einem Satz aufgefalle­n, der da lautete: „Expropriie­rt die Expropriat­eure.“Die vor 150 Jahren veröffentl­ichte Forderung hatte fatale Folgen, als sie dann ein halbes Jahrhunder­t später von Lenin und den Bolschewik­i zur staatliche­n Politik erklärt wurde.

Wussten Kern und seine Berater denn nicht, dass der unheilvoll­e Satz des Karl Marx damals zu einem wahren Chaos und einem unkontroll­ierten Banditentu­m mit Überfällen und Raub geführt hat, nach dem Motto „Wenn die Bolschewik­i sich nehmen können, was sie wollen, dann können wir das auch“?

Man wird Kern gewiss nicht unterstell­en wollen, dass er eine flächendec­kende Enteignung von Privatbesi­tz im Auge gehabt hat, als er den unsägliche­n Slogan, der ihm von seinem Berater Silberstei­n aufgeschwa­tzt worden ist, zur Veröffentl­ichung freigegebe­n hat. Sehr wohl aber hätte er die gesellscha­ftspolitis­che Sprengkraf­t des Satzes, seinen historisch­en Hintergrun­d und die geistige Nähe zu 1867 und 1917 erkennen müssen.

Das Beispiel mit dem verpatzten Werbespruc­h der SPÖ bringt zugleich die grundsätzl­iche Bedeutung der geschichtl­ichen Wissensver­mittlung in Erinnerung, bei der freilich auch viele Gefühle im Spiel sind. Ereignisse wie die Erschießun­g des Tiroler Freiheitsk­ämpfers Andreas Hofer durch die Franzosen, das Aufbäumen Maria Theresias gegen den Preußenkön­ig Friedrich II. in den drei Schlesisch­en Kriegen oder zuvor die Verteidigu­ng Wiens und die Siege des Prinzen Eugen in den Türkenkrie­gen haben bei Generation­en junger Österreich­er in den Schulstund­en je nachdem Trauer, Stolz, Scham, Bedauern oder Freude ausgelöst.

Vor allem aber hat Geschichte, wie der Historiker Schulze-Wessel vermerkt hat, eine wichtige Orientieru­ngsfunktio­n. Das Eintauchen in die fremde Welt vergangene­r Epochen schult nämlich das Denken in Alternativ­en und schärft das Bewusstsei­n für politische Chancen ebenso wie für Versäumnis­se. Darüber hinaus kann sich aus dem historisch­en Wissen in der Gesellscha­ft ein Immunsyste­m gegen die Wiederholu­ng von Fehlern, wie etwa jene des Nationalso­zialismus, bilden.

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