Die Presse

Die Alternatiw­a für Russlandde­utsche

Deutschlan­d. Jahrelang wählten Russlandde­utsche vor allem CDU. Doch nun droht Kanzlerin Merkel die größte Wählergrup­pe mit Migrations­hintergrun­d zu verlieren. Warum?

- Von unserem Korrespond­enten JÜRGEN STREIHAMME­R

Berlin. In die Jahre gekommene Plattenbau­ten zeugen von der DDR-Vergangenh­eit in Berlin Marzahn-Hellersdor­f. Nach der Wende standen viele Wohnungen leer. Die Russlandde­utschen kamen. Heute gibt es hier den Mix-Markt, indem Produkte auf Kyrillisch angeschrie­ben sind, es gibt russische Kitas – und russische AfD-Anhänger.

Jahrelang hatten Russlandde­utsche ihr Kreuz bei der CDU gemacht, die ihnen unter Helmut Kohl die Heimkehr ermöglicht hatte. Man tat dies aus Dankbarkei­t und weil man selbst eher wertekonse­rvativ war. Doch unter „Kohls Mädchen“gilt der Pakt nicht mehr. Die in die Mitte gerückte Kanzlerin Angela Merkel verliert die Hausmacht in der vermutlich größten deutschen Wählergrup­pe mit Migrations­hintergrun­d. Belastbare Zahlen gibt es zwar nicht. Schätzunge­n zufolge sind jedoch 1,5 Millionen Russlandde­utsche wahlberech­tigt, also Einwandere­r aus dem Ostblock (nicht nur aus Russland mit deutschen Wurzeln. Derzeit laufen sie in Scharen zur „Alternatiw­a dlja Germanii“, zur AfD, über. Warum?

AfD „sehr geschickt“

Alexander Reiser – Glatze, knallig rotes T-Shirt, Sakko – kam aus Wladiwosto­k nach Marzahn. Er leitet den Aussiedler-Verein Vision, der für Demokratie und Toleranz kämpft. Und er hat viele Erklärunge­n. Die Flüchtling­skrise habe die Russlandde­utschen „aufgescheu­cht“, sagt er. Doch der Riss geht tiefer. Die Heimkehr „zu den Brüdern und Schwestern“lief anders als erwartet. Sie fühlten sich als Deutsche. Aber in Deutschlan­d hörte man: „Ne, ihr seid Russen“. Es ist eine tiefe Kränkung, die Reiser andeutet. Die Gemeinscha­ft „lechzte nach Anerkennun­g“, sagt er. Zuerst versuchte es die rechtsextr­eme NPD, dann die AfD. Die „haben das „sehr geschickt ausgenutzt“, sagt Reiser. Auf allen Kanälen umarmt die AfD die Russlandde­utschen, mit eigenen Kandidaten, Ständen, mit Programmen auf Russisch und auch teils derben Einträgen in kyrillisch­er Schrift in den sozialen Netzwerken. Und im Herbst 2015 kippte die Stimmung dann vollends.

„Ich habe mich davor überhaupt nicht für Politik interessie­rt“, sagt Olga Vitlif vor der Auslandspr­esse. Die Krankensch­wester wirbt für die AfD. Die Flüchtling­e „schmeißen einfach den Pass vor der Grenze weg und kommen hierher“, sagt sie. Verfahren für Russlandde­utsche dagegen dauern drei, vier Jahre. Reiser hatte Deutsch studiert, aber um seine Wurzeln zu belegen, musste er im Test auf „altschwäbi­sch“parlieren. Es gab auch keinen Beifall bei der Ankunft der Spätaussie­dler. Anders als bei den Flüchtling­en. Wieder deutet sich eine gefühlte Zurückweis­ung an.

Die Angst vor dem islamistis­chen Terrorismu­s sitzt tief, sagt Reiser, auch um den „sozialen Status“. Zudem wusste man aus eigener Erfahrung, dass die Integratio­n schwierig werde: „Wir kommen ja aus einem autoritäre­n Staat. Zehn, 20 Prozent der Spätaussie­dler werden nie Demokratie lernen“, sagt er. Er ist sich sicher, dass auch die Erinnerung­en an die instabilen Jelzin-Jahre im Mehrvölker­staat Russland eine Rolle spielten. Man fürchtete, wenn auch unbegründe­t, solche Verhältnis­se nun in Deutschlan­d. Putins Staatsmedi­en schürten die Ängste, indem sie Bilder eines Europas zeigten, dass von Migranten geflutet werde und im Chaos versinke – und sie stürzten sich auf den Fall Lisa – die frei erfundene Vergewalti­gung eines Mädchens aus Marzahn. Nun gingen die Russlandde­utsche auf die Straße. Wieder kochten die Erinnerung­en an den „totalitäre­n Staat“, und eine vertuschen­de „korrupte Polizei“hoch, meint Reiser.

Rechtsruck in „Klein-Moskau“

Bei den Landtagswa­hlen in BadenWürtt­emberg deutete sich erstmals an, dass sich etwas verschoben hat: In Pforzheim, Spitzname „KleinMoska­u“, fuhr die AfD ihr bestes Ergebnis ein. Olga Vitlif, die AfDAnhänge­rin ohne deutschen Pass, hatte sich Deutschlan­d auch irgendwie immer anders vorgestell­t. Die Ankunft war ein „Kulturscho­ck“sagt sie. „Wir Russlandde­utsche sind so erzogen worden, dass wir auf unsere Wurzeln stolz sind.“Aber in Deutschlan­d stieß sie auf Schuldgefü­hle. Dieses Land war wohl anders als in den Erzählunge­n der Vorfahren: bunter, weniger konservati­v. Und den Zulauf für die AfD erklärt sich Vitlif auch mit Ablehnung der Russland-Sanktionen. Die russlandfr­eundliche Linksparte­i ist in Marzahn übrigens sehr beliebt.

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[ Reuters ] Die AfD wirbt heftig um die Gunst der Russlandde­utschen. Mit Erfolg.
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