Die Alternatiwa für Russlanddeutsche
Deutschland. Jahrelang wählten Russlanddeutsche vor allem CDU. Doch nun droht Kanzlerin Merkel die größte Wählergruppe mit Migrationshintergrund zu verlieren. Warum?
Berlin. In die Jahre gekommene Plattenbauten zeugen von der DDR-Vergangenheit in Berlin Marzahn-Hellersdorf. Nach der Wende standen viele Wohnungen leer. Die Russlanddeutschen kamen. Heute gibt es hier den Mix-Markt, indem Produkte auf Kyrillisch angeschrieben sind, es gibt russische Kitas – und russische AfD-Anhänger.
Jahrelang hatten Russlanddeutsche ihr Kreuz bei der CDU gemacht, die ihnen unter Helmut Kohl die Heimkehr ermöglicht hatte. Man tat dies aus Dankbarkeit und weil man selbst eher wertekonservativ war. Doch unter „Kohls Mädchen“gilt der Pakt nicht mehr. Die in die Mitte gerückte Kanzlerin Angela Merkel verliert die Hausmacht in der vermutlich größten deutschen Wählergruppe mit Migrationshintergrund. Belastbare Zahlen gibt es zwar nicht. Schätzungen zufolge sind jedoch 1,5 Millionen Russlanddeutsche wahlberechtigt, also Einwanderer aus dem Ostblock (nicht nur aus Russland mit deutschen Wurzeln. Derzeit laufen sie in Scharen zur „Alternatiwa dlja Germanii“, zur AfD, über. Warum?
AfD „sehr geschickt“
Alexander Reiser – Glatze, knallig rotes T-Shirt, Sakko – kam aus Wladiwostok nach Marzahn. Er leitet den Aussiedler-Verein Vision, der für Demokratie und Toleranz kämpft. Und er hat viele Erklärungen. Die Flüchtlingskrise habe die Russlanddeutschen „aufgescheucht“, sagt er. Doch der Riss geht tiefer. Die Heimkehr „zu den Brüdern und Schwestern“lief anders als erwartet. Sie fühlten sich als Deutsche. Aber in Deutschland hörte man: „Ne, ihr seid Russen“. Es ist eine tiefe Kränkung, die Reiser andeutet. Die Gemeinschaft „lechzte nach Anerkennung“, sagt er. Zuerst versuchte es die rechtsextreme NPD, dann die AfD. Die „haben das „sehr geschickt ausgenutzt“, sagt Reiser. Auf allen Kanälen umarmt die AfD die Russlanddeutschen, mit eigenen Kandidaten, Ständen, mit Programmen auf Russisch und auch teils derben Einträgen in kyrillischer Schrift in den sozialen Netzwerken. Und im Herbst 2015 kippte die Stimmung dann vollends.
„Ich habe mich davor überhaupt nicht für Politik interessiert“, sagt Olga Vitlif vor der Auslandspresse. Die Krankenschwester wirbt für die AfD. Die Flüchtlinge „schmeißen einfach den Pass vor der Grenze weg und kommen hierher“, sagt sie. Verfahren für Russlanddeutsche dagegen dauern drei, vier Jahre. Reiser hatte Deutsch studiert, aber um seine Wurzeln zu belegen, musste er im Test auf „altschwäbisch“parlieren. Es gab auch keinen Beifall bei der Ankunft der Spätaussiedler. Anders als bei den Flüchtlingen. Wieder deutet sich eine gefühlte Zurückweisung an.
Die Angst vor dem islamistischen Terrorismus sitzt tief, sagt Reiser, auch um den „sozialen Status“. Zudem wusste man aus eigener Erfahrung, dass die Integration schwierig werde: „Wir kommen ja aus einem autoritären Staat. Zehn, 20 Prozent der Spätaussiedler werden nie Demokratie lernen“, sagt er. Er ist sich sicher, dass auch die Erinnerungen an die instabilen Jelzin-Jahre im Mehrvölkerstaat Russland eine Rolle spielten. Man fürchtete, wenn auch unbegründet, solche Verhältnisse nun in Deutschland. Putins Staatsmedien schürten die Ängste, indem sie Bilder eines Europas zeigten, dass von Migranten geflutet werde und im Chaos versinke – und sie stürzten sich auf den Fall Lisa – die frei erfundene Vergewaltigung eines Mädchens aus Marzahn. Nun gingen die Russlanddeutsche auf die Straße. Wieder kochten die Erinnerungen an den „totalitären Staat“, und eine vertuschende „korrupte Polizei“hoch, meint Reiser.
Rechtsruck in „Klein-Moskau“
Bei den Landtagswahlen in BadenWürttemberg deutete sich erstmals an, dass sich etwas verschoben hat: In Pforzheim, Spitzname „KleinMoskau“, fuhr die AfD ihr bestes Ergebnis ein. Olga Vitlif, die AfDAnhängerin ohne deutschen Pass, hatte sich Deutschland auch irgendwie immer anders vorgestellt. Die Ankunft war ein „Kulturschock“sagt sie. „Wir Russlanddeutsche sind so erzogen worden, dass wir auf unsere Wurzeln stolz sind.“Aber in Deutschland stieß sie auf Schuldgefühle. Dieses Land war wohl anders als in den Erzählungen der Vorfahren: bunter, weniger konservativ. Und den Zulauf für die AfD erklärt sich Vitlif auch mit Ablehnung der Russland-Sanktionen. Die russlandfreundliche Linkspartei ist in Marzahn übrigens sehr beliebt.