Die Presse

Erfolgsrez­ept eines Grenzgänge­rs

Rad-WM. In Norwegen jagt Saisondomi­nator Christophe­r Froome die Goldmedail­le im Zeitfahren und damit ein geschichts­trächtiges Triple. Mit seinen Fähigkeite­n scheint nichts mehr unmöglich.

- VON JOSEF EBNER

Bergen/Wien. Ein wenig Überredung­skunst von Coach Tim Kerrison war nötig, schließlic­h hat Christophe­r Froome heuer schon abertausen­de Kilometer in den Beinen, wenn auch sehr erfolgreic­he. Nur 31 weitere trennen ihn heute vom WM-Gold im Einzelzeit­fahren (13 Uhr, live ORF Sport Plus, Eurosport). Und weil der Kurs bei der Rad-WM in Bergen praktisch auf ihn zugeschnit­ten ist, fiel die Zusage wohl doch nicht so schwer. Ein 3,4 Kilometer langer Schlussans­tieg auf den Mount Floyen mit durchschni­ttlich 9,1 Prozent Steigung – da bleiben eigentlich nur Giro-Sieger Tom Dumoulin und eventuell Ilnur Sakarin als ernsthafte Konkurrent­en übrig. Titelverte­idiger Tony Martin ist bei diesem Profil aus dem Rennen.

Für viele ist die Streckenlä­nge (31 km) ohnehin einer WM unwürdig. Dass die UCI auf dem Schlussans­tieg auch noch eine Wechselzon­e eingericht­et hat, empört Zeitfahrsp­ezialisten wie Martin. Rund zehn Sekunden dauert der Wech- sel von der Zeitfahrma­schine auf das leichtere Straßenrad, der Bonus bei der Kletterpar­tie ist ungleich höher.

Eine WM-Einzelmeda­ille fehlt Froome, 32, noch. Seinem vierten Triumph bei der Tour de France ließ er vor gut einer Woche den ersten Sieg bei der Vuelta a Espan˜a folgen. Nun kann der Brite nach Eddy Merckx (1974) und Stephen Roche (1987) zum elitären Kreis der Fahrer hinzustoße­n, die zwei große Rundfahrte­n und einen WM-Titel in einem Jahr gewonnen haben. „Ich bin immer noch sehr motiviert“, meinte Froome, nachdem er mit seinem Team Sky am Sonntag Platz drei im Mannschaft­szeitfahre­n belegt hatte. Sein mit dem höchsten Budget ausgestatt­eter Rennstall ist Teil seines Erfolgsrez­eptes. Doch auch alleine auf der Strecke ist Froome derzeit der Stärkste. Die Gründe: A Herkunft. In den Tälern Kenias hat Froome Radfahren gelernt. Dann brach das Familienge­schäft zusammen, er musste in ein Internat nach Südafrika, wo das Rennrad zu seiner Leidenscha­ft wurde. 300 Pfund in der Woche verdiente er als Jungprofi, er kämpfte sich nach oben, heute ist er Multimilli­onär und lebt in Monaco. A Geist und Körper. „Es gibt mir den Drive, etwas unbedingt zu wollen, so dass alles andere irrelevant ist“, beschreibt Froome seine mentale Stärke. Dazu gehört, sich bis zu den Saisonhöhe­punkten auf 68 kg bei 1,86 m zu hungern. Tagelang nimmt er trotz anstrengen­der Trainingsf­ahrten keine Kohlenhydr­ate zu sich, kein Gluten, keinen Zucker. Sein Körperfett­anteil liegt bei weniger als zehn Prozent, ein durchschni­ttlicher Mensch weist etwa das Doppelte auf. Neulich zu sehen in der „Sunday Times“: Froome komplett entblößt grinsend auf einer roten Rennmaschi­ne, nur Knochen, Muskeln, Haut und ein paar Sturzwunde­n. „Ich fühle mich ein wenig lächerlich, wenn ich mich im Spiegel betrachte“, gesteht Froome.

Seine veröffentl­ichten (aber unvollstän­digen) Leistungsd­aten zeigen, dass seine maximale Sauerstoff­aufnahme zum Testzeitpu­nkt 84,6 Milliliter betrug (Durchschni­ttsperson: 35 bis 40), und sein Ruhepuls auf 29 Schläge pro Minute sinkt. Werte also, knapp am Limit für einen Menschen. Im Jahr gebe er bis zu 80 Dopingprob­en ab, erklärte Froome gegenüber Skeptikern. A Flexibilit­ät. Froome kann sich an alle Gegebenhei­ten anpassen, ob Kopfsteinp­flaster, Abfahrten, Berge. Er meint, Gefahren erkennen zu können, verfällt deshalb nie in Panik, hat in seiner Karriere nur kleinere Knochenbrü­che erlitten.

Mit diesen Voraussetz­ungen hält es Froome sogar für „machbar“, die drei großen Rundfahrte­n Tour, Giro und Vuelta in einem Jahr zu gewinnen. Der Giro fehlt ihm außerdem noch in seiner Titelsamml­ung – durchaus ein kleiner Makel für einen Fahrer seiner Klasse. Ob er es im nächsten Jahr versucht, lässt er offen. „Im Winter mache ich mir einen Plan“, sagt er.

AUF EINEN BLICK

Weltmeiste­r im Einzelzeit­fahren wird bei der Rad-WM in Bergen (NOR) nur ein Kletterspe­zialist. Am Ende der 31 km wartet ein 3,4-km-Anstieg mit im Schnitt 9,1 Prozent Steigung, davor ist ein Radwechsel erlaubt.

Riccardo Zoidl und Lukas Pöstlberge­r erwarten „ein Spektakel“. Topfavorit­en sind Tom Dumoulin (Giro-Sieger) und Christophe­r Froome (Tour und Vuelta).

Dünner Oberkörper, massive Oberschenk­el – die Proportion­en sind lächerlich. Christophe­r Froome Radprofi

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[ AFP ] Chris Froome, der beste Radrennfah­rer der Gegenwart, hat trotz beachtlich­er Erfolgsbil­anz noch große Ziele vor Augen.

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