„Entschleunigung ist eine Illusion“
Interview. Warum wir der Unruhe nie entrinnen, Projekte so lieben und keine Stoiker werden können: Ein Gespräch mit dem Philosophen Ralf Konersmann, Tractatus-Preisträger des am Donnerstag startenden Philosophicum Lech.
Die Presse: „Stress“, „Burnout“– jeder weiß, was damit gemeint ist. Vor hundert Jahren sprach man mehr von „Nervosität“, liest man in Ihrem „Wörterbuch der Unruhe“. Was hat sich geändert? Ralf Konersmann: Die Nervosität wurde eher als kollektives Schicksal erlebt. Mit Nervosität meinte man in erster Linie die Atmosphäre der großen Stadt. In den Berichten über die Großstadt wird sie als etwas Pulsierendes geschildert, sie hat ein Eigenleben, alles geht schneller, die Eindrücke überfluten einen. Das Wort „Stress“hingegen steht mehr für einen Rückzug auf den Einzelnen. Stress wird vor allem als private Herausforderung gesehen, für die jeder seine eigenen Lösungen finden muss. Dieses Denken setzt auch voraus, dass Unruhe als eine Normalität behandelt wird.
Unruhe gehört zur menschlichen Grundausstattung. Was unterscheidet unsere heutige etwa von der „inquietas“, wie sie Seneca und andere Stoiker beschrieben? Die Stoiker setzen einen Ort der Sicherheit voraus, auf den der Mensch sich hinbewegen soll – die Grundverfassung des Kosmos. Im Prinzip ist die Welt für den Stoiker in Ordnung. In so einer Welt kann ich mich zurücknehmen, weil ich nicht das Gefühl habe, mich um alles kümmern zu müssen. Ich muss nur die Prinzipien dieser Welt besser verstehen, mich auf ihren Rhythmus einschwingen, dann werde ich weniger Unbill erfahren. Mit der Welt gehen statt gegen sie angehen – das ist die große stoische Vision.
In Gelassenheitsratgebern stehen die Stoiker hoch im Kurs. Finden auch Sie, wir sollten Stoiker werden? Ich halte das für ein kolossales Missverständnis. Natürlich will ich niemanden davon abhalten, sich in die Stoiker oder die Mystik des Mittelalters zu versenken. Wir können mit viel Anstrengung so ein Leben simulieren, hineinbegeben können wir uns nicht. Uns fehlt, was für Denker wie Epiktet, Marc Aurel oder Seneca selbstverständliche Voraussetzung war – so selbstverständlich, dass es gar nicht ausgesprochen werden musste: die Bürgschaft einer grundsätzlich intakten Welt.
Die bot später auch das christliche Weltbild des Mittelalters, mit der Neuzeit kam der große Umsturz. Wenn wir den Stoikern nicht folgen können, was hat uns Blaise Pascal zu sagen? Kein Denker kommt in Ihrem „Wörterbuch“so häufig vor wie er. Ich sehe Pascal als ersten Denker, der begriffen hat, was Modernisierung heißt, was die neue metaphysische Obdachlosigkeit bedeu- tet. Wie verstörend und verwirrend die Neuzeit im Einzelnen auf die Zeitgenossen gewirkt hat, wie tiefste Überzeugungen dabei zunichte wurden – das hat Pascal in einer Nüchternheit, Klarheit und Strenge beschrieben, die ohne Beispiel ist.
Er kritisierte auch seinen Zeitgenossen Montaigne . . . Ja, der blieb entspannter und pflegte eine stoische Distanz zur Welt. Das konnten wir früher, sagt Pascal, jetzt nicht mehr. Die Zeit ist gekommen, in der der Mensch für alles verantwortlich ist. Mit dem Beiseitestehen ist es in der Neuzeit vorbei. Vor 350 Jahren hat er das geschrieben, und bis heute ist nicht klar, was Ruhe unter den Bedingungen der Neuzeit sein könnte. Natürlich gibt es zahllose Angebote für den Einzelnen – aber ich meine: was es gesellschaftlich heißen könnte.
Die Unruhe der Neuzeit war ja mit vielen, teilweise auch eingelösten Freiheitsversprechen verbunden. Dazu zählte die Arbeit, die uns heute mit „Burnout“bedroht. Genau, das ist eben das Freiheitsproblem, und deswegen ist die Unruhe auch so ambivalent. Wir sind zugleich Enthusiasten und Leidende der Unruhe.
Wie alt ist die Angst vor der „Langeweile“? Der Begriff sollte seit dem 17. Jahrhundert den Adel diskriminieren, der sein Geld nicht mit Arbeit verdienen musste. Wie gerne würden die was Vernünftiges tun, hieß es da, die langweilen sich doch nur . . . Der zweite Zweck war, den Leuten Angst zu machen. Der Aufklärer d’Alembert zum Beispiel verkündete, Langeweile sei viel schlimmer als jede noch so uninteressante Arbeit.
Die Unruhe ist uns so selbstverständlich geworden wie die Luft, die wir atmen, behaupten Sie. Was kann man sich da von Entschleunigungsrezepten erhoffen? Die Entschleunigung, der Ausstieg aus der Unruhe, ist eine Illusion. Natürlich sollten wir individuelle Strategien suchen, aber es zeigt sich, dass Entschleunigung in unserer Zeit erst wieder zum Projekt wird. Sie verfällt selbst der Logik der Unruhe mit ihrer ewigen Frage: Was machen wir als Nächstes?!
Das „Projekt“fehlt in Ihrem Wörterbuch, ist es nicht ein charakteristisches UnruheWort? Wer würde heute jahrzehntelang an einem Buch arbeiten? Ein Projekt bietet Vorwärtsdrängen und absehbares Ende zugleich. Werden nicht diese kurzen Haltepunkte heute immer wichtiger? Das Projekt ist ein typisches Unruhe-Wort, aber Ende hat es doch gerade keines! Der Autor Daniel Defoe schrieb schon in seinem Text „On projects“, das sei ein Unternehmen, das immer weitergehe. Ich kenne das von der Uni, da wird aus einem Projekt oft ein Lehrstuhl . . . Das Ende gehört natürlich zur Rhetorik. Wer würde sonst mitmachen?
Apropos Lehrstuhl – Sitzen wird als Ruhehaltung gesehen. Aber gerade in der unruhigen Neuzeit ist es zur Arbeitshaltung par excellence geworden. Tatsächlich gehört das Sitzen zu den wenigen ruheaffinen Kulturleistungen, die die Moderne populär gemacht hat. Kein Wunder auch, dass es heute gern bekämpft wird. Dabei ist nicht immer auseinanderzuhalten, was Sorge um die Gesundheit und was Verdacht gegen eine Lebensform ist: Der Sitzende ändert nichts. Endpunkt dieser Lebensform ist der Stammtisch.