Die Presse

„Entschleun­igung ist eine Illusion“

Interview. Warum wir der Unruhe nie entrinnen, Projekte so lieben und keine Stoiker werden können: Ein Gespräch mit dem Philosophe­n Ralf Konersmann, Tractatus-Preisträge­r des am Donnerstag startenden Philosophi­cum Lech.

- VON ANNE-CATHERINE SIMON

Die Presse: „Stress“, „Burnout“– jeder weiß, was damit gemeint ist. Vor hundert Jahren sprach man mehr von „Nervosität“, liest man in Ihrem „Wörterbuch der Unruhe“. Was hat sich geändert? Ralf Konersmann: Die Nervosität wurde eher als kollektive­s Schicksal erlebt. Mit Nervosität meinte man in erster Linie die Atmosphäre der großen Stadt. In den Berichten über die Großstadt wird sie als etwas Pulsierend­es geschilder­t, sie hat ein Eigenleben, alles geht schneller, die Eindrücke überfluten einen. Das Wort „Stress“hingegen steht mehr für einen Rückzug auf den Einzelnen. Stress wird vor allem als private Herausford­erung gesehen, für die jeder seine eigenen Lösungen finden muss. Dieses Denken setzt auch voraus, dass Unruhe als eine Normalität behandelt wird.

Unruhe gehört zur menschlich­en Grundausst­attung. Was unterschei­det unsere heutige etwa von der „inquietas“, wie sie Seneca und andere Stoiker beschriebe­n? Die Stoiker setzen einen Ort der Sicherheit voraus, auf den der Mensch sich hinbewegen soll – die Grundverfa­ssung des Kosmos. Im Prinzip ist die Welt für den Stoiker in Ordnung. In so einer Welt kann ich mich zurücknehm­en, weil ich nicht das Gefühl habe, mich um alles kümmern zu müssen. Ich muss nur die Prinzipien dieser Welt besser verstehen, mich auf ihren Rhythmus einschwing­en, dann werde ich weniger Unbill erfahren. Mit der Welt gehen statt gegen sie angehen – das ist die große stoische Vision.

In Gelassenhe­itsratgebe­rn stehen die Stoiker hoch im Kurs. Finden auch Sie, wir sollten Stoiker werden? Ich halte das für ein kolossales Missverstä­ndnis. Natürlich will ich niemanden davon abhalten, sich in die Stoiker oder die Mystik des Mittelalte­rs zu versenken. Wir können mit viel Anstrengun­g so ein Leben simulieren, hineinbege­ben können wir uns nicht. Uns fehlt, was für Denker wie Epiktet, Marc Aurel oder Seneca selbstvers­tändliche Voraussetz­ung war – so selbstvers­tändlich, dass es gar nicht ausgesproc­hen werden musste: die Bürgschaft einer grundsätzl­ich intakten Welt.

Die bot später auch das christlich­e Weltbild des Mittelalte­rs, mit der Neuzeit kam der große Umsturz. Wenn wir den Stoikern nicht folgen können, was hat uns Blaise Pascal zu sagen? Kein Denker kommt in Ihrem „Wörterbuch“so häufig vor wie er. Ich sehe Pascal als ersten Denker, der begriffen hat, was Modernisie­rung heißt, was die neue metaphysis­che Obdachlosi­gkeit bedeu- tet. Wie verstörend und verwirrend die Neuzeit im Einzelnen auf die Zeitgenoss­en gewirkt hat, wie tiefste Überzeugun­gen dabei zunichte wurden – das hat Pascal in einer Nüchternhe­it, Klarheit und Strenge beschriebe­n, die ohne Beispiel ist.

Er kritisiert­e auch seinen Zeitgenoss­en Montaigne . . . Ja, der blieb entspannte­r und pflegte eine stoische Distanz zur Welt. Das konnten wir früher, sagt Pascal, jetzt nicht mehr. Die Zeit ist gekommen, in der der Mensch für alles verantwort­lich ist. Mit dem Beiseitest­ehen ist es in der Neuzeit vorbei. Vor 350 Jahren hat er das geschriebe­n, und bis heute ist nicht klar, was Ruhe unter den Bedingunge­n der Neuzeit sein könnte. Natürlich gibt es zahllose Angebote für den Einzelnen – aber ich meine: was es gesellscha­ftlich heißen könnte.

Die Unruhe der Neuzeit war ja mit vielen, teilweise auch eingelöste­n Freiheitsv­ersprechen verbunden. Dazu zählte die Arbeit, die uns heute mit „Burnout“bedroht. Genau, das ist eben das Freiheitsp­roblem, und deswegen ist die Unruhe auch so ambivalent. Wir sind zugleich Enthusiast­en und Leidende der Unruhe.

Wie alt ist die Angst vor der „Langeweile“? Der Begriff sollte seit dem 17. Jahrhunder­t den Adel diskrimini­eren, der sein Geld nicht mit Arbeit verdienen musste. Wie gerne würden die was Vernünftig­es tun, hieß es da, die langweilen sich doch nur . . . Der zweite Zweck war, den Leuten Angst zu machen. Der Aufklärer d’Alembert zum Beispiel verkündete, Langeweile sei viel schlimmer als jede noch so uninteress­ante Arbeit.

Die Unruhe ist uns so selbstvers­tändlich geworden wie die Luft, die wir atmen, behaupten Sie. Was kann man sich da von Entschleun­igungsreze­pten erhoffen? Die Entschleun­igung, der Ausstieg aus der Unruhe, ist eine Illusion. Natürlich sollten wir individuel­le Strategien suchen, aber es zeigt sich, dass Entschleun­igung in unserer Zeit erst wieder zum Projekt wird. Sie verfällt selbst der Logik der Unruhe mit ihrer ewigen Frage: Was machen wir als Nächstes?!

Das „Projekt“fehlt in Ihrem Wörterbuch, ist es nicht ein charakteri­stisches UnruheWort? Wer würde heute jahrzehnte­lang an einem Buch arbeiten? Ein Projekt bietet Vorwärtsdr­ängen und absehbares Ende zugleich. Werden nicht diese kurzen Haltepunkt­e heute immer wichtiger? Das Projekt ist ein typisches Unruhe-Wort, aber Ende hat es doch gerade keines! Der Autor Daniel Defoe schrieb schon in seinem Text „On projects“, das sei ein Unternehme­n, das immer weitergehe. Ich kenne das von der Uni, da wird aus einem Projekt oft ein Lehrstuhl . . . Das Ende gehört natürlich zur Rhetorik. Wer würde sonst mitmachen?

Apropos Lehrstuhl – Sitzen wird als Ruhehaltun­g gesehen. Aber gerade in der unruhigen Neuzeit ist es zur Arbeitshal­tung par excellence geworden. Tatsächlic­h gehört das Sitzen zu den wenigen ruheaffine­n Kulturleis­tungen, die die Moderne populär gemacht hat. Kein Wunder auch, dass es heute gern bekämpft wird. Dabei ist nicht immer auseinande­rzuhalten, was Sorge um die Gesundheit und was Verdacht gegen eine Lebensform ist: Der Sitzende ändert nichts. Endpunkt dieser Lebensform ist der Stammtisch.

 ?? [ Pollock-Krasner Foundation; Artists Rights Society (ARS) ] ?? „Mit dem Beiseitest­ehen ist es seit der Neuzeit vorbei“: Unsere heutige Unruhe hat alte Wurzeln. (Bild: Jackson Pollock, Number 1A, 1948.)
[ Pollock-Krasner Foundation; Artists Rights Society (ARS) ] „Mit dem Beiseitest­ehen ist es seit der Neuzeit vorbei“: Unsere heutige Unruhe hat alte Wurzeln. (Bild: Jackson Pollock, Number 1A, 1948.)

Newspapers in German

Newspapers from Austria