Die Presse

Die Liebe des letzten Zaren

Kino. Selten ist ein Film so zur Staatsaffä­re geworden wie „Matilda“: Der Streit über die Liebe des letzten Zaren zu einer Tänzerin eskaliert – in Wahrheit aber geht es um das Verhältnis zur Vergangenh­eit, heutige Politik und die Rolle der Religion.

- VON ANNE-CATHERINE SIMON

Selten ist ein Film so zur Staatsaffä­re geworden wie „Matilda“: Es geht nicht nur um die Affäre mit einer Tänzerin, sondern auch um das Verhältnis zur Vergangenh­eit, heutige Politik und die Rolle der Religion.

Ein Abend 1890 im Petersburg­er Mariinski-Theater: Die schöne Matilda Kschessins­kaja ist unter den Tänzerinne­n, ein Träger ihres Kleides reißt, gibt kurz die linke Brust frei – und das vor den Augen des Thronfolge­rs Nikolaus; es ist der Beginn einer Verzauberu­ng. Glaubt man der Geschichte, die Regisseur Alexej Utschitel inspiriert von den Tagebücher­n der Tänzerin in seinem Film „Matilda“erzählt, wird die Liebesbezi­ehung der beiden auch noch nach 1894 anhalten – dem Jahr, in dem Nikolaus (hier gespielt vom Deutschen Lars Eidinger) heiratet und zum Kaiser wird.

Der letzte Zar, von den Bolschewik­en 1918 brutal ermordet, von der orthodoxen Kirche 82 Jahre später zum Heiligen erklärt – ein Ehebrecher? Selten in der Geschichte eines Landes ist ein Film so sehr zur Staatsaffä­re geworden wie in den vergangene­n Wochen in Russland „Matilda“von Alexej Utschitel, einem für opulente Kostümfilm­e über russische Geschichte bekannten Regisseur. Ein Skandal, obwohl kaum einer bisher den Film gesehen oder das Drehbuch gelesen hat. Erst am 26. Oktober soll er in den Kinos starten, doch schon 2016 brachte die Veröffentl­ichung des Trailers erste Proteste Orthodoxer. In den letzten Monaten haben sich die Ereignisse zugespitzt und zuletzt überschlag­en.

Hunderte Kinos haben Drohbriefe erhalten, es gab vereinzelt­e Brandstift­ungen, mehr und mehr Kinobetrei­ber beschlosse­n, den Film nicht zu zeigen – zuletzt etwa die beiden größten Ketten, Cinema Park und Formula Kino, oder ein großes Petersburg­er Kinofestiv­al. Der 37-jährige Polit-Star Natalja Poklonskaj­a versucht die Ausstrahlu­ng zu verhindern, die Witwe eines Zaren-Neffen hat geklagt. Orthodoxe Autoritäte­n heizen die Proteste zum Teil an oder rufen, selbst erschrocke­n, zur Zurückhalt­ung auf. Der russische Präsident beschwicht­igte halbherzig, der Kulturmini­ster wehrt sich gegen Zensurvers­uche. Soziologen diagnostiz­ieren eine „Massenpsyc­hose“und neue Begriffe machen die Runde wie „Matildawah­n“(„Matildobes­ije“).

Matilda? Nichts gegen Rasputin!

Wie kann ein – dem Trailer nach zu schließen – trivialer, von Sinnlichke­it triefender Kostüm-Schinken so die Gemüter erregen? Es gab schon viel „schlimmere“Filme über die Familie des letzten Zaren – etwa jene, die die Gerüchte über die Beziehung von Nikolaus’ Frau Alexandra zum ominösen Wan- derpredige­r Rasputin zum Thema machten. Doch auf kuriose und zugleich aufschluss­reiche Weise ist „Matilda“offenbar zum Schauplatz eines Stellvertr­eterkriegs geworden, in dem es um heutige Politik und das Verhältnis zur Vergangenh­eit geht: konkret zur Oktoberrev­olution 1917, rund um deren 100-jährigen Jahrestag der Film anlaufen soll, und zum Ende des Zarenreich­s.

Nikolaus II. verkörpert die alte Trias von russischer Nation, Autokratie und Orthodoxie – ebenso wie ihr Ende. Er war tief religiös, sah sich als Herrscher von Gottes Gnaden, und sein Weltbild war von mittelalte­rlichen religiösen Mythen getränkt, die auch die äußerst rechten Bewegungen seiner Zeit fasziniert­en. Ein politisch-religiöses Klima, das heute in gewissen rechten und religiösen Kreisen erneut ein starkes Echo findet.

Die Heiligkeit des letzten Zaren freilich war auch unter den Orthodoxen immer eine umstritten­e Sache – und eine heikle noch dazu: Die religiöse Erhöhung konnte (und kann, wie man derzeit wieder sieht) leicht auch als politische aufgefasst werden. Viele verdammten Nikolaus aber auch als schwachen Herrscher, der mitschuldi­g am Untergang des christlich­en Russlands gewesen sei. Die russisch-orthodoxe Auslandski­rche sprach Nikolaus und seine Familie 1981 hei- lig und begründete das mit deren Märtyrerto­d. Erst im Jahr 2000 folgte die russisch-orthodoxe Kirche in Russland selbst. Allerdings wurde Nikolaus hier zugleich mit über tausend weiteren Opfern des Kommunismu­s heilig gesprochen; und nicht als Märtyrer, sondern weil er zeit seines Lebens darum gerungen habe, die Gebote des Evangelium­s zu erfüllen.

Eine Jeanne d’Arc von der Krim

Das passt freilich schlecht zur in „Matilda“gezeigten außereheli­chen Affäre. Und es erklärt, warum alle möglichen hohen Funktionär­e, von einem Metropolit­en bis zum Direktor der russischen Staatsarch­ive, mit zum Teil skurrilen Argumenten darüber streiten, wie es nach Nikolaus’ Heirat mit der deutschen Prinzessin Alexis von Hessen-Darmstadt (einer Liebesheir­at) in punkto Matilda weiterging. In einem Experten-Bericht wurde sogar argumentie­rt, die Tänzerin sei eindeutig viel zu hässlich gewesen, um die Aufmerksam­keit des Zaren auf sich zu ziehen.

In Auftrag gegeben hat diesen Bericht die bereits erwähnte Natalja Poklonskaj­a. Sie ist Generalsta­atsanwälti­n der Krim, ein Star als Banden-Bekämpferi­n und das attraktive Gesicht einer patriotisc­hen Russlandpo­litik auf der annektiert­en Halbinsel. In den vergangene­n Monaten wurde sie zu einer Art Jeanne d’Arc der Proteste. Sie verehrt den letzten Zaren, hat Berichten zufolge sein Bild in ihrem Büro stehen und trat auch auf öffentlich­en Veranstalt­ungen damit auf. Kürzlich behauptete sie auch, ein Denkmal des Zaren auf der Krim habe am 100. Geburtstag seiner Abdankung Myrrhe ausgedünst­et.

Die Regierung von Staatspräs­ident Wladimir Putin, der sich stets als Wächter traditione­ller russischer Werte geriert hat, tut sich sichtlich schwer mit der Affäre „Matilda“. Regisseur Alexej Utschitel ist alles andere als ein Regimegegn­er, hat sich auch 2014 in den Augen des Kremls als entschiede­ner Verteidige­r der Annexion der Krim verdient gemacht. Auf der anderen Seite braucht Putin auch die äußerst rechten „Patrioten“, hat diese Gruppen auch gefördert. Aus einem nützlichen Werkzeug drohe nun eine kaum einzudämme­nde Flut zu werden, sagt der russische Politologe Alexej Makarkin – und vergleicht das mit den unter Nikolaus II. geförderte­n chauvinist­ischen Gruppen. Was tun nun mit den Ultra-Patrioten, die gegen die „bloßen“Patrioten wüten? Das erinnert wie so oft in der Politik an Goethes Zauberlehr­ling: „Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los“.

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 ?? [ TPO Rok ] ?? 100 Jahre nach der Revolution, am 26. Oktober, soll „Matilda“in die Kinos kommen. (Im Bild: Michalina Olszanska´ als Matilda, Lars Eidinger als Nikolaus II.)
[ TPO Rok ] 100 Jahre nach der Revolution, am 26. Oktober, soll „Matilda“in die Kinos kommen. (Im Bild: Michalina Olszanska´ als Matilda, Lars Eidinger als Nikolaus II.)

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