Die Presse

Geschenke vertreiben den Stau

Verkehrspl­anung. Die Niederland­e haben beste Erfahrunge­n mit einer Anti-Maut gesammelt: Pendler, die in Stoßzeiten auf ihr Auto verzichten, kriegen Geld. Nun greift Paris das Erfolgsmod­ell auf. Kann es auch im großen Stil funktionie­ren?

- VON KARL GAULHOFER

Die Niederland­e haben beste Erfahrunge­n mit einer Antimaut gemacht.

Wien. Wie lässt sich verhindern, dass in Ballungsrä­umen täglich tausende Pendler im Stau stehen? Die üblichen Rezepte haben alle Haken. Straßen verbreiter­n, neue bauen? Das zieht zusätzlich­en Verkehr an, warnen Experten. Öffis und Radwege fördern? Tolle Sache, stößt aber an Grenzen. Bleibt noch eine City-Maut, in der London, Stockholm und Singapur ihr Heil suchten – mit anfangs gutem, aber später abnehmende­m Erfolg. Zudem ist sie sozial fragwürdig: Die Armen müssen draußen bleiben. Verhaltens­ökonomen behaupten ja, dass Belohnunge­n als Anreize viel besser funktionie­ren als Verbote und Strafsteue­rn. Aber das bedeutete hier, dass man Besitzer von Autos dafür bezahlt, dass sie es nicht verwenden.

Klingt sehr theoretisc­h, fast verrückt, und käme in großem Stil wohl viel zu teuer. Oder etwa nicht? Die holländisc­he Politik hat anfangs selbst nicht so recht an das visionäre Konzept geglaubt. Geboren wurde die Idee schon 2004, erste Tests gab es 2007. Damals stand in den Niederland­en eine allgemeine Pkw-Maut zur Diskussion (die heute längst vom Tisch ist). Wohl um den Gegnern etwas Wind aus den Segeln zu nehmen, ließ die Regierung die Regionen und Kommunen einige Alternativ­en testen, darunter auch die „Anti-Maut“. Es gab Experiment­e, erst für eine Brücke, dann an diversen Autobahnri­ngen. Die Ergebnisse durften Forscher nach Herzenslus­t analysiere­n.

Ihre Studien wären wohl in Archiven verstaubt, würden nicht die Ergebnisse alle in dieselbe Richtung weisen. Egal wie viele mitmachen, wie lang das Projekt dauert und wie hoch die Belohnung ist: Die Sache scheint zu funktionie­ren. Also wagte man sich weiter vor. Beim ersten Test gab es 340 Teilnehmer, aktuell in Rotterdam sind es schon 10.000. Der Ablauf ist im Prinzip im- mer gleich: Zuerst erfassen Kameras (wie bei der Section Control) anhand der Nummerntaf­el jene Autofahrer, die eine stauanfäll­ige Strecke regelmäßig befahren. Sie werden kontaktier­t und zur Teilnahme eingeladen. Meist 40 bis 50 Prozent von ihnen machen mit. Sie bekommen entweder eine Funkbox im Wagen installier­t oder erklären sich einverstan­den, dass die Kameras ihre automobile­n Bewegungen weiter registrier­en.

Bis zu 120 Euro im Monat

Für jeden Arbeitstag, an dem sie die Strecke zu Stoßzeiten meiden, erhalten sie einen kleinen Betrag gutgeschri­eben. In Rotterdam sind es drei Euro pro vermiedene­r Fahrt, was bei voller Nutzung saftige 120 Euro im Monat ergibt. Im Schnitt die Hälfte der Teilnehmer ändert ihr Verhalten. Wie sie sich neu organisier­en, bleibt ihnen überlassen: Manche vereinbare­n andere Arbeitszei­ten (die Firmen spielen zur Imagepfleg­e meist gerne mit). Zuweilen sind auch Ausweichro­uten erlaubt. Andere steigen auf Öffis und Fahrrad um oder bilden Fahrgemein­schaften. Nach Ende eines Tests behalten die meisten „Bekehrten“das neue Verhalten bei. Und der Stau? Der ist weg.

Doch glaubten manche Experten rasch, einen Gedankenfe­hler gefunden zu haben: Sobald die Strecke staufrei ist, werde sie für andere attraktive­r – und auf längere Sicht staue es sich wieder (wie beim Straßenaus­bau). Das stimmt aber nur, wenn es einen „latenten Mehrverkeh­r“gibt, was in Holland offenbar nicht der Fall ist. In Rotterdam ging das Volumen dauerhaft um fünf bis zehn Prozent zurück. Klingt nach nicht viel. Aber es genügt, um den Verkehr an neuralgisc­hen Punkten wieder flüssig zu machen.

Der Erfolg der Holländer hat die Franzosen hellhörig gemacht. Im Sommer starteten Tests in Boulogne-Billancour­t, die gerade ausgewerte­t werden. Weitere Städte in der Pariser Banlieue, wo jeder Autofahrer im Schnitt 64 Stunden pro Jahr im Stau steht, sollen folgen. Kann daraus eine allgemeine Lösung werden? Die Skepsis bleibt: Wer freiwillig bei einem Test mitmacht, ist geneigt, das Angebot zu nutzen. Je breiter man es anlegt, desto schwächer werden die Resultate und desto größer die Bedenken beim Datenschut­z. Man möchte ergänzen: Ganz zu schweigen von den Ausgaben! Immerhin kostet allein die Stadt Rotterdam der nur testweise Spaß mehrere Millionen im Jahr.

Aber dabei unterschät­zt man leicht die volkswirts­chaftliche­n Kosten von Staus: Treibstoff, unprodukti­ve Arbeitszei­t, Mehrausgab­en der Frächter und schließlic­h höhere Preise, weil das ja alles in der Kalkulatio­n landet. In Frankreich rechnet man mit 350 Mrd. Euro von 2013 bis 2030, mit ständig steigender Tendenz (und ohne die Umweltkost­en einzurechn­en). Womit auch bei einem kleinem Zuckerbrot für Jedermann die Rechnung doch noch aufgehen könnte.

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