Die Presse

Neil Diamond in Wien: Zeitreise eines Stimmchari­smatikers

Stadthalle. Nach 40 Jahren Pause kehrte der Sänger triumphal in die Wiener Stadthalle zurück. Selbst die Möwe Jonathan durfte mit.

- VON SAMIR H. KÖCK

Mit seinem manchmal leicht grantelnde­n Bariton hat er vor allem in den Siebzigerj­ahren endlos scheinende Tagträume ausgelöst. Jetzt war Neil Diamond, mittlerwei­le auch schon 76 Jahre alt, endlich wieder in der Stadthalle zurück. Und er schlug von Beginn an jenen charakteri­stischen Sehnsuchts­ton an, der seine Fans wenigstens für kurze Zeit aus beengenden Verhältnis­sen befreit.

Neil Diamond war immer schon der Sänger jener, die sich, ob im verregnete­n Dorf oder in der grauen Stadt, in mondäne Verhältnis­se träumten. Was, wenn nicht die Liebe könnte das Vehikel für umfassende Befreiung sein? Nach einem ziemlich albernen Beginn, bei dem Diamond sein nicht als Reggae konzipiert­es „Cherry Cherry“als Schunkelei darbot, wurde es mit „You Got Me“ernst. Wenn sogar einer wie Diamond, der im fernen New York groß wurde, vom Charme der Damen auf die Knie gezwungen wird, warum kann solch ein Verführung­swerk dann nicht auch einer Hiesigen gelingen? „Never thought that I’d say please, girl“formuliert­e Diamond da mit ähnlich flehentlic­her Stimme wie im Jahre 1967, als das Lied entstand.

50-jähriges Bühnenjubi­läum

Damals hob Diamonds Weltkarrie­re an. Niemandem, der am Fanartikel­stand vorbeikam, konnte entgehen, dass der Mann heuer sein 50-jähriges Bühnenjubi­läum zelebriert. T-Shirts, Häferln und sogar (noch ungeheizte) Decken wurden da feil geboten. Für die Jubiläumst­our ließ sich Diamond nicht lumpen. Vor einem riesigen Diamanten, auf den später bei „Brooklyn Roads“noch allerlei Homemovies projiziert werden sollten, verteilten sich Musikanten mit bester Reputation. Schlagzeug­er Ron Tutt spielte mal bei Elvis Presley, Perkussion­ist King Errison bei Marvin Gaye und Gitarrist Richard Bennet bei Mark Knopfler. Ein vierköpfig­e Bläsertrup­pe und zwei Sängerinne­n sorgten zudem für angenehme klangliche Opulenz.

Dann der Doppelschl­ag. Das sich bei Mozarts Klavierkon­zert 21 freizügig bedienende „Song Sung Blue“und „A Beautiful Noise“rauschten unmittelba­r nacheinand­er in die größtentei­ls betagten Gehörgänge. Jetzt sprangen selbst Erlebnisüb­erdrüssige auf und klatschten in die Hände, als gäbe es kein Morgen. Andere hingegen schienen wie erstarrt in ihrem Erinnerung­szwang an die eigene selige Jugend. Nur wenige Youngster fanden ihren Weg in die Halle. Den meisten von ihnen wurde Diamond zum Begriff, weil sein „Girl, You’ll Be A Woman Soon“Teil des Soundtrack­s von Quentin Tarantinos 1994 gedrehtem Film „Pulp Fiction“war. Leider sang er es an diesem Abend nicht. Wie er auch Klassiker wie „Longfellow Serenade“, „Heartlight“und „Gitchy Goomy“ausließ.

An Höhepunkte­n mangelte es dennoch nicht. „Solitary Man“entfaltete große Würde. Nach wie vor reichert Diamond seine romantisch­en Sehnsüchte mit Bitterstof­fen an. Etwa das herrlich naive „Play Me“, das tröstliche „Dry Your Eyes“und das aus 2008 stammende „Pretty Amazing Grace“.

Möwe am Großbildsc­hirm

Geradezu ekstatisch wurde es bei „Sweet Caroline“. Noch schöner waren indes die stillen Juwelen wie „I Am . . . I Said“und „Be“vom oft von Zynikern verlachten Soundtrack zu „Jonathan Livingston­e Seagull“. Jetzt zog die Möwe am Großbildsc­hirm im Licht eines Sonnenunte­rgangs ihre Kreise. Und Diamond sang auch für seine gealterten Fans so aufbruchst­rächtige Zeilen wie „Be as a page that aches for a word which speaks to a theme that’s timeless.“Die Zeit mag ein Dieb sein, aber manchmal bleibt sie auch in den schönsten Momenten stehen.

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