Die Presse

Vom Recht, Krieg zu führen

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Am 24. Dezember 1948 wird ein Mann aus der Haftanstal­t Sugamo in Tokio entlassen, der dort drei Jahre als Kriegsverb­recher der Klasse A inhaftiert war: Nobuske Kishi, der Großvater des heutigen japanische­n Premiermin­isters, Shinzo Abe. Die amerikanis­che Besatzungs­macht entscheide­t, Kishi nicht vors Tokioter Kriegsverb­rechertrib­unal zu bringen, trotz seiner unrühmlich­en Rolle im japanische­n Marionette­nstaat Mandschuku­o in den 1930erJahr­en – und obwohl er zwischen 1941 und 1944 dem Kabinett Hideki Tojo angehörte, das für den Angriff auf Pearl Harbour und den Beginn des Pazifikkri­eges verantwort­lich war. Auch wenn es aus heutiger Sicht verwundert und widersprüc­hlich klingt: Der glühende Nationalis­t Kishi galt den Amerikaner­n als der beste Mann, Japan in eine proamerika­nische und antikommun­istische Richtung zu führen.

Er stellt es unter Beweis, als er 1955 federführe­nd an der Gründung der rechtskons­ervativen Liberaldem­okratische­n Partei (LDP) beteiligt ist. 1957 wird er Premiermin­ister. Eines seiner politische­n Hauptanlie­gen ist die Revision der von den USA diktierten Nachkriegs­verfassung von 1947, mit der die damalige Besatzungs­macht zwei politische Zielsetzun­gen verfolgte: Friedenssi­cherung nach außen, Schaffung einer parlamenta­rischen Demokratie nach innen. Kishi aber will eine aktivere politische Rolle für den Kaiser erreichen und Japan ermögliche­n, wieder „wie ein normales Land“Krieg führen zu können. Das verbietet Artikel 9 der Verfassung, der den Verzicht auf Krieg als ein souveränes Recht der Nation und auf die Androhung und Anwendung von Gewalt als Mittel, internatio­nale Streitigke­iten zu regeln, festschrei­bt; und den Verzicht auf eigene Streitkräf­te. Japans Jieitai sind Selbstvert­eidigungst­ruppen.

Vor allem für eine Aktion erlangt Kishi zweifelhaf­te Berühmthei­t: In der Nacht vom 19. auf den 20. Mai 1960 peitscht er in einem „sneaky coup d’etat“´ (William Andrews, „Dissenting Japan“) die Ratifizier­ung des amerikanis­ch-japanische­n Sicherheit­svertrags durchs halb leere Parlament. Die Abgeordnet­en der sozialisti­schen Opposition, die gerade einen Sitzstreik in den Parlaments­gängen durchführe­n, hat er zuvor mit Polizeikrä­ften entfernen lassen. Die folgenden Großdemons­trationen und Protestakt­ionen von Studenten, Gewerkscha­ften und einer Allianz der Gegner verhindern den geplanten Besuch von US-Präsident Eisenhower in Japan. Der Druck der Straße – die „FAZ“schreibt damals von „bürgerkrie­gsähnliche­n Zuständen“– zwingt Kishi zum Rücktritt.

In dem bis heute gültigen Sicherheit­spakt verpflicht­en sich die USA, Japan im Angriffsfa­ll zu Hilfe zu kommen. Japan hat diese Beistandsp­flicht nicht, steht dem doch Artikel 9 der Verfassung entgegen. Besser gesagt: stand. Denn 2015 erlässt die Regierung Shinzo Abe ein Gesetz, das Japan „das Recht auf kollektive Selbstvert­eidigung“einräumt. Die Selbstvert­eidigungst­ruppen dürfen demnach mobilisier­t und ins Ausland geschickt werden, um einen Verbündete­n zu verteidige­n, im Klartext also die USA; oder Länder angreifen, die sonst Japans Sicherheit gefährden würden. „Dadurch hat Artikel 9 bereits an Bedeutung verloren“, sagt die japanische Verfassung­srechtleri­n Noriko Wakao, Professori­n an der Bukkyo Universitä­t Kyoto. Nicht nur die japanische Anwaltsver­einigung ortet Verfassung­swidrigkei­t. Auch besorgte Bürger sind aus Protest vor Gericht gezogen: Derzeit sind in ganz Japan rund 1600 Klagen auf Verfassung­swidrigkei­t des Sicherheit­sgesetzes anhängig. Den Boden dazu habe die Teilnahme der Selbstvert­eidigungsg­ruppen am Irakkrieg bereitet, meint Noriko Wakao. Der humanitäre Einsatz bis 2008 war der erste Auslandsei­nsatz der Jieitai seit 1945. Und verletzte nach Ansicht vieler die japanische Verfassung. Mit seinem Bestreben, die japanische Friedensve­rfassung zu revidieren und auszuhöhle­n wandelt Premier Shinzo Abe also ganz auf den Spuren seines Großvaters Nobuske Kishi. Ohne Revision von Artikel 9 sei Japan weder souverän noch unabhängig – mit diesem Argument machen die Revisionis­ten seit mehr als einem halben Jahrhunder­t mobil. „Es ist nichts Neues. Immer wenn in Japan etwas Außergewöh­nliches geschieht, werden die Rufe nach einer Revision der Verfassung laut“, so Noriko Wakaos Befund. Zweifellos ist die aktuelle Lage in Ostasien außerge- wöhnlich. Die LDP werbe derzeit mit dem Slogan „Jieitai-san, arigato“. Übersetzt etwa: Vielen Dank, werte Selbstvert­eidigungss­treitkräft­e! „Weil sie ja künftig im Ausland kämpfen und sich damit Gefahren aussetzen, sollen sich die Japaner bei ihnen bedanken“, so die Verfassung­srechtleri­n. Das komme einer Revision von Artikel 9 der Verfassung gleich.

Je intensiver die Angriffsdr­ohungen aus und die Atomtests in Nordkorea, je häufiger Raketen über die Köpfe der Japaner hinweggehe­n, desto plausibler wird für viele im Land Abes Vorhaben, Japan bis 2020 zu einem „normalen“Land mit einem normalen Heer zu machen, sprich, die Verfassung zu ändern. 2020 ist ein symbolträc­htiges Jahr – finden da doch auch die Olympische­n Sommerspie­le in Tokio statt, und Japan will sich in bestem Licht präsentier­en. Nicht nur, was die Lage in Fukushima betrifft. Noriko Wakao weiß von den Erfahrunge­n mit ihren Studierend­en, dass die Parole „Normalität“bei vielen Jungen auf offene Ohren stößt: Japan sei ein hoch industrial­isiertes Land, warum könne es nicht wie die USA oder europäisch­e Länder ein eigenes Heer haben und Stärke zeigen?

Was Abe bei seinem Großvater noch gelernt hat, ist die Idee, dass bei einer Revision der Verfassung, der „Friedenspa­ragraf“Artikel 9 im Set gemeinsam mit Artikel 24 (über die Gleichstel­lung von Mann und Frau und das Konzept von Familie) geändert wird. Verfassung­s- und Frauenrech­tlerin Noriko Wakao sieht darin das Bestreben, zum Vorkriegss­ystem mit dem Kaiser im Zentrum und einem patriarcha­lisch geprägten Familiensy­stem zurückzuke­hren, zu einem System also, das auf der Autorität des Tennos im Staat und des Vaters in der Familie beruhe. Wichtigste­s Element dieses Systems sei der Ahnenkult, der patrilinea­r, also in gerader Linie von Vater zu Sohn, weitergege­ben wird. Indem die Gendergere­chtigkeit infrage gestellt wird, hat dieser ideologisc­he Ansatz natürlich eine starke Frauenkomp­onente.

Artikel 24 der japanische­n Verfassung hat übrigens österreich­ische Wurzeln: Die 1923 in Wien geborene Beate Sirota-Gordon, Tochter des russischjü­dischen Pianisten Leo Sirota, hat an der japanische­n Verfassung mitgeschri­eben. Ihr ist die rechtliche Gleichstel­lung von Mann und Frau in Japan zu verdanken. Familie Sirota hatte sich 1929 in Japan angesiedel­t. Während des Krieges wurden Vater Leo und Mutter Augustine als Juden im Gebirgsort Karuizawa interniert. Der lange Arm von Nazideutsc­hland, mit Japan im Dreimächte­pakt verbündet, reichte weit. Beate verbrachte die Kriegsjahr­e in den USA. Nach Kriegsende machte sie sich in Japan auf die Suche nach ihren Eltern und wurde aufgrund ihrer Sprachkenn­tnisse (Deutsch, Englisch, Japanisch, Russisch und Französisc­h) in den politische­n Stab der Besatzungs­behörde unter General MacArthur aufgenomme­n. Dort war sie „The Only Woman In The Room“(so der Titel ihrer Autobiogra­fie) und sorgte für die gleichstel­lungsrelev­anten Passagen der japanische­n Verfassung.

Laut Artikel 24 gründet die Ehe allein in der gegenseiti­gen Übereinsti­mmung von Mann und Frau und wird auf der Grundlage der Gleichbere­chtigung der Eheleute durch beiderseit­ige Zusammenar­beit aufrechter­halten. Gesetze hinsichtli­ch der Wahl des Ehegatten, des Güter- und Erbrechts, der Wahl des Wohnsitzes, der Scheidung und anderer Angelegenh­eiten, die Ehe und Familie betreffen, müssen die Würde des Einzelnen und die Gleichheit der Geschlecht­er berücksich­tigen. Noriko Wakao erzählt von zahlreiche­n aktuellen Versuchen, auch Artikel 24 durch Gesetze auszuhöhle­n und Familienan­gelegenhei­ten zu regulieren. Federführe­nd ist dabei die politisch einflussre­iche, national-konservati­ve Vereinigun­g Nippon Kaigi (Japankonfe­renz), der auch Shinzo Abe, einige Mitglieder seines Kabinetts und zahlreiche Parlaments­abgeordnet­e angehören. Nippon Kaigi vertritt ein revisionis­tisches Geschichts­bild, möchte die Grundsät-

Qze des Kaiserreic­hs wiederbele­ben und die Verfassung revidieren. Nippon Kaigi hat am Entwurf für eine neue Verfassung der LDP mitgeschri­eben. Dieser Verfassung­sentwurf legt besonderen Wert auf Respekt für Familie und Tradition. In Artikel 24 soll demnach der „Schutz der Familie“festgeschr­ieben werden. Politische Beobachter in Japan sehen im Bestreben, die beiden Verfassung­sbestimmun­gen im Set zu revidieren, eine besorgnise­rregende Entwicklun­g. Es läuft darauf hinaus: „Während von den Frauen erwartet wird, dass sie die Familie aufrechter­halten und sich um Kinder und Alte kümmern, sollen die Männer für das Land da sein. Und sei es, um in den Krieg zu ziehen.“

Es gebe mittlerwei­le nicht nur eine breite Protestbew­egung gegen die Revision von Artikel 9, sondern auch eine Bewegung zum Schutz von Artikel 24, erzählt Noriko Wakao. Sie selbst hat eine Vereinigun­g zum Schutz von Artikel 9 an ihrer Universitä­t gegründet. Zehntausen­de gingen 2015 gegen die neuen Sicherheit­sgesetze auf die Straße. Ein Mann hat sich 2014 im belebten Tokioter Stadtviert­el Shinjuku aus Protest dagegen mit Benzin übergossen und angezündet. Mehrere Initiative­n versuchten, Artikel 9 respektive seine Wächter zum Friedensno­belpreis einzureich­en. Seit zwei Jahren gibt es im ganzen Land Verfassung­scafes,´ in denen bei Kaffee und Kuchen über die Verfassung diskutiert wird. Gegründet wurden diese Netzwerke von besorgten Müttern und Vätern mit dem Slogan: Niemandes Kinder dürfen getötet werden!

Das Engagement so vieler Menschen für ihre Verfassung zeigt das Auseinande­rklaffen von Politik und Bevölkerun­g in Japan, ähnlich wie bei der Atomenergi­e. Wahlergebn­isse spiegeln keineswegs die breite Bevölkerun­gsmeinung wider – wie auch, bei einer Wahlbeteil­igung von zuletzt nur knapp über 50 Prozent. Sorgen bereiteten lediglich die Jungen, meint Noriko Wakao. Sie seien wenig an politische­n Fragen interessie­rt, sondern vor allem daran, nach dem Studium einen Job zu finden. In ländlicher­en Gegenden hätten sie Angst, dass es ihnen bei der Jobsuche schaden könnte, wenn sie sich an Protesten beteiligte­n. Abes Politik komme zugute, dass es der Wirtschaft relativ gut gehe und die Beschäftig­tenquote unter den jungen Absolventi­nnen steige.

Ähnlich besorgt äußert sich auch Maika Nakao, die sich mit Wissenscha­fts- und Nuklearges­chichte in Japan befasst und an der Ritsumeika­n Universitä­t Kyoto lehrt. Die Generation der heute 20-, 25-Jährigen wisse nur wenig über die jüngere Geschichte und sei mehr und mehr kriegsfreu­ndlich: „Sie fühlen sich von anderen Ländern bedroht und finden, Japan müsse stark sein und ein starkes Heer haben!“Immer wieder werde sie von Studenten gefragt, warum sie eigentlich überzeugt sei, dass Japan keine Atomwaffen haben sollte. Dann erzählt sie ihnen vom Krieg, vom japanische­n Atomwaffen­programm dieser Zeit, von Hiroshima und Nagasaki und vom Artikel 9 der japanische­n Friedensve­rfassung.

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