Die Presse

Warum der Westbalkan sorgenvoll nach Spanien blickt

Sezession. Das Unabhängig­keitsrefer­endum erinnert viele an den Beginn des Zusammenbr­uchs Jugoslawie­ns. Gleichzeit­ig dient es als Vorbild für Regionalbe­wegungen, die etwa in der bosnischen Republika Srpska oder in der serbischen Vojvodina mehr Eigenständ­ig

- Von unserem Korrespond­enten THOMAS ROSER

Belgrad. Nicht nur in Barcelona, sondern auch im fernen Serbien flatterten am Wochenende die katalonisc­hen Flaggen. Alle Büros der Regionalpa­rtei „Liga der sozialdemo­kratischen Vojvodina“(LSV) hatten in der autonomen Provinz des EU-Anwärters als Zeichen der Solidaritä­t das rot-gelb gestreifte Banner der „Estelada“mit dem weißen Stern gehisst. LSV-Chef Nenad Cˇanak reiste am Wochenende gar selbst nach Barcelona: „Dieses Referendum wird ernste politische Folgen haben. Das zentralisi­erte Spanien wird so wie heute nicht mehr bestehen können.“

Ausführlic­h erörterte die Belgrader Zeitung „Blic“gestern die Übereinsti­mmungen und Unterschie­de des katalonisc­hen Unabhängig­keitsstreb­ens mit den Autonomief­orderungen der Vojvodina, den Sezessions­gelüsten des bosnischen Teilstaats der Republika Srpska oder der von Serbien nicht anerkannte­n Unabhängig­keit des Kosovo. In Barcelonas bosnischer Partnersta­dt Sarajevo zogen Hunderte in FC-Barcelona-Trikots als Zeichen der Solidaritä­t mit dem katalonisc­hen Unabhängig­keitsstreb­en durch die Altstadt. Kroatiens Regierung müsse ihr Schweigen brechen und endlich die „brutale Gewalt“der spanischen Polizei verurteile­n, fordert derweil in Kroatien die autonomist­ische Regionalpa­rtei „Liste für Rijeka“: Ein Staat, der auf dem Weg zur Unabhängig­keit selbst die Solidaritä­t der Welt einfordert­e, habe „kein Recht“, den Kopf „von Spaniens beschämend­er Interventi­on“abzuwenden.

Doch bis auf Serbien, wo Würdenträg­er sich bitter über die „Scheinheil­igkeit“und „zweierlei Maß“des Westens bei dessen Haltung zu Kosovo beklagten, schwei- gen sich die meisten Regierungs­politiker in den Nachfolges­taaten mit Rücksicht auf Spanien oder die gemengte heimische Interessen­slage zum Streit um Katalonien wohlweisli­ch aus. Dabei wird dieser fast nirgendwo in Europa so aufmerksam verfolgt wie in der kriegsgebe­utelten Region der Sezessione­n: Ältere Bosnier, Kroaten und Serben fühlen sich angesichts der Volksbefra­gungen an den blutigen Zerfall Jugoslawie­ns erinnert.

„Hat Istrien das Recht auf Eigenständ­igkeit von Kroatien?“, fragt sich besorgt das kroatische Webportal „Index.hr“. Doch obwohl das relativ wohlhabend­e Istrien deutlich mehr Steuergeld­er nach Zagreb abführt als von der Zentralreg­ierung Mittel erhält, werden Sezessions­absichten selbst von den Politikern der Regionalpa­rtei Istrische Demokratis­che Versammlun­g (IDS) dementiert. „Das war nie unsere Politik. Wir wollen zwar eine möglichst große Autonomie von Istrien, aber keinen unabhängig­en Staat“, sagt IDS-Europaparl­amentarier Ivan Jakovciˇc´ zu „Index“.

Dodik droht mit Referendum

„Vojvodina = Katalonien“lautet die Botschaft frischgesp­rühter Schablonen-Graffiti im serbischen Novi Sad. Die multiethni­sche Vojvodina hatte bereits 1945 den 1974 noch erweiterte­n Status einer „autonomen Provinz“erhalten. Der 1989 vom serbischen Autokraten Slobodan Miloseviˇc´ faktisch aufgehoben­e Autonomie-Status wurde zwar 2002 wiedereing­eführt und 2006 um mehr finanziell­e Eigenständ­igkeit erweitert. Doch die Forderunge­n nach einer Rückkehr zum weitreiche­nden Autonomies­tatus von 1974 wehrte Belgrad ab.

Die Bestrebung­en albanische­r Nationalis­ten, die albanisch besiedelte­n Regionen Mazedonien­s und Südserbien­s mit dem Mutterland und Kosovo zu einem „Großalbani­en“zu vereinen, stoßen derweil nicht nur in Belgrad, sondern auch bei der Internatio­nalen Gemeinscha­ft auf Granit: Sie fürchtet bei der Neuziehung von Grenzen neue Konflikte in der Vielvölker­region.

Am häufigsten werden Sezessions­drohungen in Bosnien und Herzegowin­a laut. Bosniens Kroaten, die bisher mit den muslimisch­en Bosniaken im Teilstaat der Föderation vereint sind, fordern eine eigene Entität. Vor allem aus wahltaktis­chen Gründen pflegt Serbenführ­er Milorad Dodik regelmäßig mit einem Referendum über eine Loslösung des Teilstaats der Republika Srpska (RS) zu drohen – und dann doch wieder davon abzusehen. Wenn die RS tatsächlic­h ein Referendum wie Katalonien forcieren sollte, würde sie bei der Internatio­nalen Gemeinscha­ft ohnehin keinerlei Unterstütz­ung finden, glaubt der Jurist Miroslav Perkovic.´

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