Warum der Westbalkan sorgenvoll nach Spanien blickt
Sezession. Das Unabhängigkeitsreferendum erinnert viele an den Beginn des Zusammenbruchs Jugoslawiens. Gleichzeitig dient es als Vorbild für Regionalbewegungen, die etwa in der bosnischen Republika Srpska oder in der serbischen Vojvodina mehr Eigenständig
Belgrad. Nicht nur in Barcelona, sondern auch im fernen Serbien flatterten am Wochenende die katalonischen Flaggen. Alle Büros der Regionalpartei „Liga der sozialdemokratischen Vojvodina“(LSV) hatten in der autonomen Provinz des EU-Anwärters als Zeichen der Solidarität das rot-gelb gestreifte Banner der „Estelada“mit dem weißen Stern gehisst. LSV-Chef Nenad Cˇanak reiste am Wochenende gar selbst nach Barcelona: „Dieses Referendum wird ernste politische Folgen haben. Das zentralisierte Spanien wird so wie heute nicht mehr bestehen können.“
Ausführlich erörterte die Belgrader Zeitung „Blic“gestern die Übereinstimmungen und Unterschiede des katalonischen Unabhängigkeitsstrebens mit den Autonomieforderungen der Vojvodina, den Sezessionsgelüsten des bosnischen Teilstaats der Republika Srpska oder der von Serbien nicht anerkannten Unabhängigkeit des Kosovo. In Barcelonas bosnischer Partnerstadt Sarajevo zogen Hunderte in FC-Barcelona-Trikots als Zeichen der Solidarität mit dem katalonischen Unabhängigkeitsstreben durch die Altstadt. Kroatiens Regierung müsse ihr Schweigen brechen und endlich die „brutale Gewalt“der spanischen Polizei verurteilen, fordert derweil in Kroatien die autonomistische Regionalpartei „Liste für Rijeka“: Ein Staat, der auf dem Weg zur Unabhängigkeit selbst die Solidarität der Welt einforderte, habe „kein Recht“, den Kopf „von Spaniens beschämender Intervention“abzuwenden.
Doch bis auf Serbien, wo Würdenträger sich bitter über die „Scheinheiligkeit“und „zweierlei Maß“des Westens bei dessen Haltung zu Kosovo beklagten, schwei- gen sich die meisten Regierungspolitiker in den Nachfolgestaaten mit Rücksicht auf Spanien oder die gemengte heimische Interessenslage zum Streit um Katalonien wohlweislich aus. Dabei wird dieser fast nirgendwo in Europa so aufmerksam verfolgt wie in der kriegsgebeutelten Region der Sezessionen: Ältere Bosnier, Kroaten und Serben fühlen sich angesichts der Volksbefragungen an den blutigen Zerfall Jugoslawiens erinnert.
„Hat Istrien das Recht auf Eigenständigkeit von Kroatien?“, fragt sich besorgt das kroatische Webportal „Index.hr“. Doch obwohl das relativ wohlhabende Istrien deutlich mehr Steuergelder nach Zagreb abführt als von der Zentralregierung Mittel erhält, werden Sezessionsabsichten selbst von den Politikern der Regionalpartei Istrische Demokratische Versammlung (IDS) dementiert. „Das war nie unsere Politik. Wir wollen zwar eine möglichst große Autonomie von Istrien, aber keinen unabhängigen Staat“, sagt IDS-Europaparlamentarier Ivan Jakovciˇc´ zu „Index“.
Dodik droht mit Referendum
„Vojvodina = Katalonien“lautet die Botschaft frischgesprühter Schablonen-Graffiti im serbischen Novi Sad. Die multiethnische Vojvodina hatte bereits 1945 den 1974 noch erweiterten Status einer „autonomen Provinz“erhalten. Der 1989 vom serbischen Autokraten Slobodan Miloseviˇc´ faktisch aufgehobene Autonomie-Status wurde zwar 2002 wiedereingeführt und 2006 um mehr finanzielle Eigenständigkeit erweitert. Doch die Forderungen nach einer Rückkehr zum weitreichenden Autonomiestatus von 1974 wehrte Belgrad ab.
Die Bestrebungen albanischer Nationalisten, die albanisch besiedelten Regionen Mazedoniens und Südserbiens mit dem Mutterland und Kosovo zu einem „Großalbanien“zu vereinen, stoßen derweil nicht nur in Belgrad, sondern auch bei der Internationalen Gemeinschaft auf Granit: Sie fürchtet bei der Neuziehung von Grenzen neue Konflikte in der Vielvölkerregion.
Am häufigsten werden Sezessionsdrohungen in Bosnien und Herzegowina laut. Bosniens Kroaten, die bisher mit den muslimischen Bosniaken im Teilstaat der Föderation vereint sind, fordern eine eigene Entität. Vor allem aus wahltaktischen Gründen pflegt Serbenführer Milorad Dodik regelmäßig mit einem Referendum über eine Loslösung des Teilstaats der Republika Srpska (RS) zu drohen – und dann doch wieder davon abzusehen. Wenn die RS tatsächlich ein Referendum wie Katalonien forcieren sollte, würde sie bei der Internationalen Gemeinschaft ohnehin keinerlei Unterstützung finden, glaubt der Jurist Miroslav Perkovic.´