Die Presse

„Mauern aus Wut, Entfremdun­g und Enttäuschu­ng“

Deutschlan­d. Bundespräs­ident Steinmeier übte sich am Tag der Einheit als Mahner und Gewissen der Nation.

- VON THOMAS VIEREGGE

Wien/Mainz. Für die Spitzenrep­räsentante­n der Republik, für Frank-Walter Steinmeier und Angela Merkel, die vom Dom zum Gutenbergm­useum und danach zum Festakt zur Feier der Deutschen Einheit zur Rheingoldh­alle in Mainz schritten, gab es diesmal verhaltene­n Beifall. Es war ein auffällige­r Kontrast zur Vorjahresf­eier, als AfD-Parteigäng­er Merkel & Co. zwischen Semperoper und Frauenkirc­he in Dresden mit derben Schimpftir­aden überzogen – eine Vorahnung der Protestwel­le gegen die Kanzlerin im Wahlkampf in diesem Spätsommer.

Das hat zum einen damit zu tun, dass in Mainz das Krawall-Potenzial längst nicht so groß ist wie in Dresden; und zum anderen damit, dass das Zentrum der rheinland-pfälzische­n Hauptstadt, die heuer turnusmäßi­g an der Reihe war, die Feierlichk­eiten auszuricht­en, seit dem Besuch des USPräsiden­ten George W. Bush im Februar 2005 nicht mehr so stark zerniert war. Das niederschm­etternde Ergebnis der Bundestags­wahl steckte den Politikern der Regierungs­parteien indessen noch in den Knochen – am allerwenig­sten vielleicht Angela Merkel, die die Verantwort­ung Deutschlan­ds in Europa einmahnte. „Wir können uns von den Ereignisse­n in der Welt nicht abkoppeln.“

Schockstar­re am Wahlabend

Der Bundespräs­ident legte seine Rede hingegen grundsätzl­icher an: „Ich finde, auch an einem Feiertag dürfen wir nicht so tun, als sei da nichts geschehen: Abhaken und Weiter so.“Am Tag der Deutschen Einheit zieht das Staatsober­haupt als Gewissen der Nation die Aufmerksam­keit auf sich. Am Wahlabend sei der langjährig­e Außenminis­ter in Schockstar­re verfallen, als er für seine Gäste Flammkuche­n zubereitet­e und den Wahlausgan­g im TV verfolgte, hatte ein „Zeit“-Reporter berichtet. Womöglich fühlte er sich an sein eigenes Debakel als Kanzler- kandidat erinnert, als die SPD 2009 auf 23 Prozent abstürzte. Im Wahlkampf hatte Steinmeier dann die „Brandstift­er“kritisiert, ohne die AfD beim Namen zu nennen. Nach der Wahl warnte er vor Antisemiti­smus und Fremdenhas­s und wies den Medien eine Mitschuld am Aufstieg der AfD zu. „Die Debatten werden rauer, die politische Kultur wird sich verändern“, betonte er gestern.

Auf der Suche nach seiner Rolle

Der Ex-Außenminis­ter, dem die moralische Autorität und die rhetorisch­e Brillanz seines Vorgängers – des Pastors und Bürgerrech­tlers Joachim Gauck – abgeht, suchte lange nach seiner Rolle. Eingangs hatte er den türkischen Präsidente­n Erdogan˘ kritisiert und die Freilassun­g des Journalist­en Deniz Yücels gefordert. Nun hat er seine Rolle gefunden, in einer Arbeitstei­lung mit Wolfgang Schäuble, dem künftigen Bundestags­präsidente­n und AfD-Dompteur. Seiner Rede stellte Steinmeier ein Zitat aus dem Wolf-BiermannLi­ed „Um Deutschlan­d ist mir gar nicht bang“voran: „Deutschlan­d ist wieder eins/ Nur ich bin noch zerrissen.“

Die Strophe setzte das Leitmotiv. Steinmeier sagte, er habe Menschen getroffen, die ihre Orientieru­ngslosigke­it kundgetan hätten: „Ich versteh’ mein Land nicht mehr.“28 Jahre nach dem Fall der Mauer seien andere Mauern entstanden, „weniger sichtbare, ohne Stacheldra­ht und Todesstrei­fen.“

Es seien „Mauern aus Entfremdun­g, Enttäuschu­ng und Wut“, Mauern zwischen arm und reich, zwischen Land und Stadt, „Mauern rund um die Echokammer­n im Internet, wo der Ton immer lauter und schriller wird“. Hinter diesen Mauern manifestie­re sich „Misstrauen gegenüber der Demokratie und ihren Repräsenta­nten“. In der Flüchtling­spolitik gehe es darum, „die Wirklichke­it der Welt und die Möglichkei­ten unseres Landes übereinzub­ringen“. So ähnlich hatte dies Gauck formuliert – treffender hätte er es jetzt auch nicht sagen können.

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[ Reuters ] Bundespräs­ident Walter Steinmeier. Frank-

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