Brüssel schlägt Revolution gegen Steuerbetrug vor
Binnenmarkt. Ein Baufehler im Mehrwertsteuersystem kostet die EU-Mitglieder jährlich 50 bis 100 Milliarden Euro. Die Kommission möchte dies durch eine Radikalreform beenden. Doch die liegt in den Händen der Finanzminister.
Brüssel. Seit der Binnenmarkt vor 25 Jahren nach und nach die innereuropäischen Grenzen für das Unternehmertum und den Handel abzuschaffen begonnen hat, wurde ein Problem immer akuter: in der EU wird nun grenzenlos importiert und exportiert, doch das System zur Einhebung der Mehrwertsteuer hielt dem nicht stand. Der Umstand, dass ein Unternehmen aus einem Land in der EU etwas ohne Mehrwertsteuer an ein anderes in einem anderen Land verkaufen kann, schuf die enormen kriminellen Möglichkeiten des Karrusselbetrugs. Dabei wer- den Waren im Binnenmarkt von Land zu Land verschickt und entweder ohne Steuer an Endkunden verkauft (was verboten ist), oder aber die Betrüger machen einen Vorsteuerabzug bei den Finanzbehörden geltend, für den es keine Grundlage gibt. Die Behörden sind den Betrügern stets einen Schritt hinterher, am Wochenende erst enthüllte die Zeitung „Le Soir“, dass Belgien allein durch chinesische Scheinfirmen auf diese Weise jährlich fünf Milliarden Euro an Steuereinnahmen entgehen. EUweit sind es jährlich rund 50 Milliarden Euro, laut Europol bis zu 100 Milliarden Euro.
Die Kommission wird heute, Mittwoch, eine Radikalreform zur Behebung dieses Missstandes vorlegen. Wie Unterlagen, die der „Presse“vorliegen, zeigen, wird die Kommission vorschlagen, dass ab dem Jahr 2019 schrittweise und bis 2022 so gut wie komplett im gesamten Binnenmarkt der Grundsatz gilt: das Land, aus dem eine Ware in ein anderes verkauft wird, muss die Steuer berechnen, einheben und an das Zielland überweisen. Bisher gilt das Gegenteil: bei Transaktionen zwischen Unternehmen ist die Steuer im Zielland einzutreiben. Doch wenn die steuerfrei dorthin exportiere Ware auf dem Weg „verschwindet“, fällt die Mehrwertsteuer nie an. „Ohne Mehrwertsteuer kaufen, mit Mehrwertsteuer verkaufen: hier liegt das Betrugspotenzial. Das derzeitige System ist zu kompliziert für die ehrlichen Firmen“, sagte eine zuständige Kommissionsbeamtin.
Bedenken trotz Einigkeit
Diese Reform erfordert Einstimmigkeit der Finanzminister; das Europaparlament hat nur Stellung zu nehmen. Hier liegt die Crux: einerseits stimmen die Minister überein, dass der Karussellbetrug zu bekämpfen ist. Andererseits erfordert das neue Modell eine enge Zusammenarbeit ihrer Finanzbehörden. Beim kommenden Finanzministerrat nächsten Dienstag wird Kommissar Pierre Moscovici den Reformvorschlag erstmals mit den Ministern erörtern.